Das Spiel
aber Jessie achtete nicht darauf. Die Muskeln ihres linken Arms zuckten jetzt unkontrolliert, und dieses Zucken wurde auf das schiefe, instabile Regalbrett übertragen. Ein weiteres Make-up-Döschen fiel auf den Boden. Die letzten Eisreste klirrten leise. Über dem Regal konnte sie den Schatten des Glases an der Wand sehen. Im schrägen Licht des Sonnenuntergangs sah er aus wie ein Getreidesilo, das starker Präriewind schief geweht hat.
Mehr … nur noch ein bisschen mehr …
Es GEHT nicht mehr!
Es geht. Es muss gehen.
Sie streckte die rechte Hand zur absolut sehnenzerreißenden Grenze ihrer Belastbarkeit und spürte, wie das Glas noch ein winziges Stück auf dem Regal herunterrutschte. Dann krampfte sie die Finger wieder zusammen und betete, dass es endlich genügen würde, denn jetzt ging es wirklich nicht mehr – sie hatte ihre Kraftreserven bis zum absoluten Limit belastet. Es reichte fast nicht; sie konnte immer noch spüren, wie das feuchte Glas davonrutschen wollte. Es kam ihr allmählich wie etwas Lebendiges vor, ein vernunftbegabtes Wesen mit einer bösen Ader so breit wie eine Autobahnfahrspur. Sein Ziel war, kapriziös auf sie zuzutänzeln und sich ihr dann zu entziehen, bis sie den Verstand verlor und in den Schatten der Abenddämmerung angekettet und tobsüchtig daliegen würde.
Lass es nicht entwischen, Jessie, wage es nicht, UND LASS DIESES DREIMAL VERFLUCHTE GLAS ENTWISCHEN …
Und obwohl nichts mehr ging, kein Pond Druck mehr ausgeübt werden konnte, sie außerstande war, sich auch nur noch einen Millimeter zu strecken, brachte sie doch noch ein wenig mehr zustande und drehte das rechte Handgelenk ein allerletztes Stückchen zu dem Regal hin. Und als sie die Finger dieses Mal um das Glas krümmte, blieb es reglos.
Ich glaube, ich habe es vielleicht. Nicht sicher, aber vielleicht. Vielleicht.
Oder vielleicht war sie doch schließlich in Wunschdenken verfallen. Es war ihr einerlei. Vielleicht dies und vielleicht das, und vielleicht spielte keines dieser Vielleichts mehr eine Rolle, was im Grunde genommen eine Erleichterung war. Nur eines war sicher – sie konnte das Regalbrett nicht mehr halten. Sie hatte es sowieso nur fünf oder sechs Zentimeter gekippt, höchstens sieben, aber sie fühlte sich, als hätte sie sich gebückt und das ganze Haus an einer Ecke hochgehoben. Das war sicher.
Sie dachte: Es kommt nur auf die Perspektive an und auf die Stimmen, die einem die Welt beschreiben, schätze ich. Sie sind wichtig. Die inneren Stimmen.
Mit einem zusammenhanglosen Gebet, dass das Glas in ihrer Hand bleiben möge, wenn das Regalbrett nicht mehr da war, um es zu stützen, ließ sie mit der linken Hand los. Das Brett fiel polternd auf die Halterungen zurück, es war nur leicht schief und höchstens drei oder vier Zentimeter nach links gerutscht. Das Glas blieb in ihrer Hand, und jetzt konnte sie den Untersetzer sehen. Er klebte an der Unterseite des Glases wie eine fliegende Untertasse.
Bitte, lieber Gott mach, dass ich es nicht fallen lasse. Mach, dass ich es nicht f…
Ein Krampf krümmte ihr die Hand, sie zuckte ans Kopfteil zurück. Sie verzog das Gesicht und kniff die Lippen zusammen, bis diese nur eine weiße Narbe und die Augen gequälte Schlitze waren.
Warte, es geht vorbei … es geht vorbei …
Ja, natürlich würde es vorbeigehen. Sie hatte in ihrem Leben schon genügend Muskelkrämpfe gehabt, um das zu wissen, aber momentan, o Gott, tat das weh. Hätte sie den Bizeps des linken Arms mit der rechten Hand erreichen können, würde sich die Haut dort, das wusste sie, wie über kleine Steine gespannt und dann mit unsichtbarem Faden wieder zugenäht anfühlen. Es fühlte sich nicht wie ein Charleypferd an, sondern wie eine gottverdammte Leichenstarre.
Nein, nur ein Charleypferd, Jessie. Wie das vorhin. Warte ab, das ist alles. Warte ab, und lass um Himmels willen dieses Glas Wasser nicht fallen.
Sie wartete, und nach einer oder zwei Ewigkeiten entspannten sich die Muskeln in ihrem Arm langsam wieder, und der Schmerz ließ nach. Jessie stieß einen langen, rauen Seufzer der Erleichterung aus, dann machte sie sich bereit, ihre Belohnung zu trinken. Trinken, ja, dachte Goody, aber ich finde, du bist dir ein bisschen mehr schuldig als nur einen schönen kalten Drink, Teuerste. Genieß deine Belohnung … aber genieß sie mit Anstand. Kein Schlürfen wie ein Schwein!
Goody, du änderst dich nie, dachte sie, aber als sie das Glas hob, machte sie es mit der fürstlichen Gelassenheit
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