Das Spiel
doch nicht total gewesen sein, weil der Tag noch dunkler geworden ist. Dann wird ihr klar, dass sie wahrscheinlich ohnmächtig wird.
Dieser Gedanke ist von einem Gefühl tiefer Dankbarkeit und Erleichterung begleitet.
Mach dich nicht lächerlich, Jess – in einem Traum kann man nicht ohnmächtig werden.
Aber sie denkt, dass genau das geschieht, und letztlich ist es auch einerlei, ob es eine Ohnmacht oder nur eine tiefere Schicht des Schlafes ist, zu der sie wie die Überlebende einer Katastrophe flieht. Wichtig ist, dass sie endlich diesem Traum entfliehen kann, der ihr mehr zugesetzt hat als das, was ihr Vater ihr an jenem Tag auf der Veranda angetan hat, sie kann endlich fliehen, und unter diesen Umständen scheint Dankbarkeit eine wunderbar normale Reaktion zu sein.
Sie hat es fast zu dieser tröstlichen Schicht der Dunkelheit geschafft, als sich ein Geräusch einmischt: ein splitterndes, hässliches Geräusch wie ein lauter Hustenanfall. Sie versucht, diesem Geräusch zu entfliehen, muss aber feststellen, dass sie es nicht kann. Es hält sie fest wie ein Haken, und wie ein Haken zieht es sie hinauf zu dem weiten, aber dünnen silbernen Firmament, das den Schlaf vom Wachsein trennt.
12
Der einstige Prinz, der einmal Stolz und Freude der kleinen Catherine Sutlin gewesen war, saß etwa zehn Minuten nach seinem letzten Ausflug ins Schlafzimmer im Kücheneingang. Er saß mit erhobenem Kopf und großen, starren Augen da. In den vergangenen beiden Monaten war Schmalhans Küchenmeister gewesen, aber heute Abend hatte er gut gegessen – sogar geschlemmt – und hätte eigentlich zufrieden und müde sein sollen. Beides war er eine Zeit lang gewesen, aber jetzt war seine Müdigkeit verflogen. Sie war einem Gefühl der Nervosität gewichen, das immer schlimmer wurde. Etwas hatte mehrere der haarfeinen Stolperdrähte in der mystischen Zone zerrissen, wo die Sinne des Hundes und seine Intuition einander überlappten. Das Frauchen stöhnte weiter im Nebenzimmer und gab gelegentlich Sprechlaute von sich, aber ihre Geräusche waren nicht die Ursache für die Nervosität des Streuners; sie hatten ihn nicht veranlasst, sich aufzurichten, als er im Begriff gewesen war, friedlich einzuschlafen, und auch nicht der Grund, warum er das gute Ohr jetzt aufmerksam aufgestellt und die Schnauze so sehr gefletscht hatte, dass die Spitzen der Zähne zu sehen waren.
Es war etwas anderes … etwas nicht Richtiges … etwas, das möglicherweise gefährlich war.
Während sich Jessies Traum dem Höhepunkt näherte und dann spiralförmig in Dunkelheit versank, sprang der Hund plötzlich auf die Beine, weil er das ständige Kribbeln in den Nerven nicht mehr aushalten konnte. Er machte kehrt, stieß die angelehnte Hintertür mit der Schnauze auf und sprang in die windige Dunkelheit hinaus. Dabei schlug ihm ein seltsamer und unidentifizierbarer Geruch entgegen. Es lag Gefahr in diesem Geruch … mit ziemlicher Sicherheit Gefahr.
Der Hund rannte, so schnell sein praller, vollgefressener Bauch es erlaubte, in den Wald. Als er das sichere Unterholz erreicht hatte, drehte er sich um und robbte ein Stückchen zum Haus zurück. Er hatte den Rückzug angetreten, das stimmte, aber es mussten noch eine ganze Menge mehr Alarmglocken ertönen, bis er ernsthaft in Betracht ziehen würde, den wunderbaren Futtervorrat, den er gefunden hatte, aufzugeben.
In seinem sicheren Versteck fing der Streuner mit dem hageren, erschöpften, von Mondschatten überzogenen intelligenten Gesicht an zu bellen, und dieses Geräusch holte Jessie schließlich ins Reich des Wachseins zurück.
13
Während der Sommeraufenthalte am See in den frühen sechziger Jahren, bevor William mehr tun konnte als mit einem Paar grellorangefarbener Schwimmflügel im seichten Wasser paddeln, waren Maddy und Jessie, die trotz des Altersunterschieds stets gute Freundinnen gewesen waren, häufig zu den Neidermeyers zum Schwimmen gegangen. Die Neidermeyers besaßen ein Floß mit Sprungbrett, und dort trainierte sich Jessie die Form an, mit der sie sich einen Platz in der Schwimmmannschaft der Highschool und später, 1971, im All-State-Team errang. Am zweitbesten erinnerte sie sich bei den Sprüngen vom Sprungbrett auf dem Floß der Neidermeyers daran (an erster Stelle – damals und für immer – kam nämlich der Flug durch die heiße Sommerluft, hin zum blauen Glitzern des wartenden Wassers), wie es war, durch unterschiedlich kalte und warme Schichten zur Oberfläche
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