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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zurückzukommen. Und genau so war es, als sie aus ihrem unruhigen Schlaf emporkam.
    Zuerst herrschte schwarze, brüllende Verwirrung, als befände sie sich im Inneren einer Gewitterwolke. Sie mühte und kämpfte sich ihren Weg hindurch, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wer sie war oder wann sie war, geschweige denn wo sie war. Dann kam eine wärmere, ruhigere Schicht: Sie hatte den schlimmsten Alptraum der bekannten Geschichtsschreibung hinter sich (zumindest in ihrer bekannten Geschichtsschreibung), aber es war nur ein Alptraum gewesen, und jetzt war er vorbei. Aber als sie sich der Oberfläche näherte, kam sie in eine weitere kalte Schicht: in den Gedanken, dass die Wirklichkeit, die auf sie wartete, fast genauso schlimm wie der Alptraum war. Möglicherweise sogar schlimmer.
    Was ist es?, fragte sie sich. Was könnte schlimmer sein als das, was ich gerade durchgemacht habe?
    Sie weigerte sich, darüber nachzudenken. Die Antwort lag in ihrer Reichweite, aber wenn sie ihr einfiel, beschloss sie vielleicht, eine Rolle zu schlagen und wieder in die Tiefe hinabzutauchen. Das hieße ertrinken, und ertrinken war vielleicht nicht der schlimmste Weg hinaus – nicht so schlimm wie mit seiner Harley gegen eine Betonmauer zu fahren oder mit dem Fallschirm in einem Seilspiel von Starkstromleitungen zu landen zum Beispiel -, aber die Vorstellung, ihren Körper diesem schalen Mineraliengeruch zu öffnen, der sie an Kupfer und Austern zugleich erinnerte, war unerträglich. Jessie schwamm verbissen nach oben und sagte sich, sie würde sich über die Wirklichkeit Gedanken machen, wenn sie die Oberfläche tatsächlich erreicht hatte und durchbrach.
    Die letzte Schicht, durch die sie kam, war warm und furchteinflößend wie frisch vergossenes Blut: Ihre Arme würden wahrscheinlich abgestorbener als Stümpfe sein. Sie hoffte nur, sie würde sie so weit bewegen können, dass die Blutzirkulation wieder einsetzte.
    Jessie keuchte, zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte, und der Radiowecker auf dem Frisiertisch, der in seiner eigenen Hölle von besessener Wiederholung gefangen war (zwölf-zwölf-zwölf, blinkte er in die Dunkelheit, als wäre die Zeit für ewig um Mitternacht stehengeblieben), half ihr auch nicht gerade. Sie wusste nur, es war völlig dunkel und der Mond schien jetzt durch das Oberlicht und nicht mehr durch das Ostfenster.
    Ihre Arme zuckten in einem nervösen Staccato von Nadelstichen und Kribbeln. Normalerweise missfiel ihr dieses Gefühl außerordentlich, aber jetzt nicht; es war tausendmal besser als der Muskelkrampf, den sie als Strafe dafür erwartet hatte, dass sie ihre abgestorbenen Extremitäten wieder aufweckte. Einen oder zwei Augenblicke später bemerkte sie Nässe zwischen den Beinen und unter der Kehrseite und stellte fest, dass ihr Drang zu urinieren nicht mehr da war. Ihr Körper hatte sich des Problems angenommen, während sie schlief.
    Sie ballte die Fäuste, zog sich vorsichtig ein wenig hoch und zuckte angesichts der Schmerzen in den Handgelenken und dem dumpfen, qualvollen Pochen in den Handrücken zusammen. Diese Schmerzen sind weitgehend darauf zurückzuführen, dass ich versucht habe, aus den Handschellen zu schlüpfen, dachte sie. Daran bist du ganz allein schuld, Herzblatt.
    Der Hund hatte wieder angefangen zu bellen. Jeder schrille Laut war wie ein Splitter, der in ihre Trommelfelle gebohrt wurde, und ihr wurde bewusst, dass dieses Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen hatte, als sie gerade unter den Alptraum tauchen wollte. Der Ursprung des Geräuschs verriet ihr, dass der Hund wieder draußen war. Sie war froh, dass er das Haus verlassen hatte, aber auch ein wenig verwirrt. Vielleicht hatte er sich einfach unter einem Dach nicht wohlgefühlt, nachdem er so lange Zeit im Freien verbracht hatte. Dieser Gedanke ergab einen gewissen Sinn … jedenfalls so viel wie alles andere in dieser Situation.
    »Nimm dich zusammen, Jess«, riet sie sich selbst mit einer ernsten, verschlafenen Stimme, und vielleicht – nur vielleicht – gelang ihr das sogar. Panik und unvernünftige Scham, die sie in dem Traum empfunden hatte, ließen nach. Der Traum selbst schien auszutrocknen und nahm die seltsam ausgedörrte Eigenheit einer überbelichteten Fotografie an. Bald, stellte sie fest, würde er völlig verschwunden sein. Beim Aufwachen waren Träume wie die leeren Kokons von Zikaden oder die aufgeplatzten Samenkapseln von Wolfsmilch –

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