Das Spiel
Plätzchen auf dem Teller griff. »Das muss … ich weiß nicht, aber ich habe noch für Dunninger gearbeitet, also muss es vor 1959 gewesen sein. Und so viele Jahre später hast du immer noch Bammel? Wie ungemein Freudianisch, meine Teuerste!«
»Nun jaa-aaa … du weißt schon … nur ein bisschen.« Sie machte große Augen und versuchte auszudrücken, dass sie wenig sagte, aber viel meinte. In Wahrheit wusste sie nicht, ob sie noch Angst vor der alten Mrs. Mundgeruch hatte oder nicht, aber sie wusste, Mrs. Gilette war eine langweilige alte Schnepfe mit blauen Haaren, und sie, Jessie, hatte nicht die Absicht, die einzige totale Sonnenfinsternis, die sie wohl je sehen würde, mit ihr zu verbringen, wenn sie es so hinbiegen konnte, dass sie sie mit ihrem Daddy beobachten durfte, den sie mehr vergötterte, als man mit Worten ausdrücken konnte.
Sie schätzte seine Skepsis ab und stellte erleichtert fest, dass diese freundlicher Natur war, möglicherweise sogar verschwörerisch. Sie lächelte und fügte hinzu: »Und außerdem möchte ich bei dir bleiben.«
Er hob ihre Hand zum Mund und küsste ihre Finger wie ein französischer Monsieur. Er hatte sich an diesem Tag nicht rasiert – was in den Sommerferien häufig vorkam -, und das raue Kratzen seiner Bartstoppeln jagte ihr einen angenehmen Schauer wie eine Gänsehaut die Arme hinauf und wieder hinunter.
»Comment douce, mademoiselle«, sagte er. »Doucement, ma belle. Je t’aime.«
Sie kicherte, verstand sein radebrechendes Französisch nicht, wusste aber plötzlich, dass alles so laufen würde, wie sie es geplant hatte.
»Das wäre schön«, sagte sie glücklich. »Nur wir zwei. Ich könnte das Abendessen früh machen, und wir könnten es hier essen, auf der Veranda.«
Er grinste. »Eklipse-Burger à deux?«
Sie lachte, nickte und klatschte aufgeregt in die Hände.
Dann sagte er etwas, was ihr schon damals irgendwie seltsam vorgekommen war, weil ihm sonst nicht viel an Kleidung und Mode lag: »Du könntest dein hübsches neues Sommerkleid tragen.«
»Klar, wenn du willst«, sagte sie, obwohl sie sich bereits entschieden hatte, ihre Mutter zu fragen, ob sie das Kleid umtauschen konnte. Es war hübsch – wenn man sich nicht von schreiend grellen gelben und roten Streifen abschrecken ließ -, aber es war auch zu klein und zu eng. Ihre Mutter hatte es bei Sears bestellt und weitgehend geschätzt, wobei sie einfach eine Nummer größer als die, die Jessie letztes Jahr passte, eingetragen hatte. Aber wie sich herausstellte, war sie in vielerlei Hinsicht schneller gewachsen. Aber wenn es Daddy gefiel … und wenn er auf ihrer Seite stand und ihr half, diese Sache mit der Sonnenfinsternis voranzutreiben …
Er stand auf ihrer Seite und trieb sie voran wie Herkules persönlich. Er fing schon an diesem Abend damit an, als er seiner Frau nach dem Essen (und zwei oder drei milde stimmenden Gläsern vin rouge ) den Vorschlag machte, Jessie sollte von der morgigen Beobachtung der Sonnenfinsternis auf dem Mount Washington entschuldigt werden. Die meisten Nachbarn in den umliegenden Sommerhäusern gingen hin; kurz nach dem Memorial Day hatten zwanglose Treffen begonnen, wie und wo sie das bevorstehende Himmelsphänomen beobachten sollten (Jessie waren diese Treffen wie ganz normale Sommerpartys vorgekommen), und sie hatten sich sogar einen Namen gegeben – Die Dark-Score-Sonnenanbeter. Die Sonnenanbeter hatten einen Minibus von der Schulbehörde für diesen Anlass gemietet und hatten vor, mit Vesperkoffern, Polaroidsonnenbrillen, eigens konstruierten Spiegelreflektoren, Kameras mit Spezialfiltern … und natürlich einer Menge Champagner auf den Gipfel des höchsten Berges von New Hampshire zu fahren. Einer großen Menge Champagner. Für Jessies Mutter und ihre ältere Schwester schien das alles der Inbegriff einer gediegenen, ordentlichen Freizeitbeschäftigung zu sein. Für Jessie war es der Inbegriff alles Langweiligen gewesen … und das schon bevor die alte Mrs. Mundgeruch mit ins Spiel gekommen war.
Sie war am Abend des neunzehnten nach dem Essen auf die Veranda gegangen – vorgeblich um zwanzig oder dreißig Seiten von Mr. C. S. Lewis’ Jenseits des schweigenden Sterns zu lesen, bevor die Sonne unterging. Ihr wahres Ziel war nicht so intellektuell: Sie wollte hören, wie ihr Vater seinen – ihren - Vorschlag machte und ihn stumm anfeuern. Sie und Maddy hatten schon vor Jahren festgestellt, dass die Kombination Wohn-/Esszimmer des Sommerhauses eine
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