Das Spiel
eigenwillige Akustik hatte, was wahrscheinlich an der hohen Giebeldecke lag; Jessie hatte eine Ahnung, dass selbst Will wusste, wie gut der Schall von da drinnen nach hier draußen auf die Veranda getragen wurde. Lediglich ihre Eltern schienen nicht mitbekommen zu haben, dass das Zimmer ebenso gut mit Abhörmikrofonen gespickt hätte sein können und alle wichtigen Entscheidungen, die nach dem Essen bei Cognac oder Kaffee dort gefällt wurden, schon lange bevor die Marschbefehle vom Stabshauptquartier ergingen, bekannt waren (zumindest den Töchtern des Hauses).
Jessie stellte fest, dass sie den Roman von Lewis verkehrt herum hielt und korrigierte das Missgeschick hastig, bevor Maddy vorbeikam und sie mit einem gewaltigen, lautlosen Pferdewiehern auslachte. Sie verspürte leichte Schuldgefühle ob ihres Tuns – wenn man es recht überlegte, war es mehr Spionieren als Horchen -, aber nicht so sehr, dass sie es gelassen hätte. Tatsächlich dachte sie, dass sie immer noch auf der richtigen Seite einer dünnen moralischen Linie stand. Schließlich war es nicht so, dass sie sich im Schrank versteckt hatte oder so; sie saß für alle deutlich sichtbar hier draußen im hellen Schein der im Westen untergehenden Sonne. Sie saß mit ihrem Buch hier draußen und fragte sich, ob es auch auf dem Mars Sonnenfinsternisse gab, und wenn ja, ob Marsianer dort lebten, die sie beobachten konnten. War es etwa ihre Schuld, wenn ihre Eltern dachten, niemand könnte sie hören, nur weil sie da drinnen am Tisch saßen? Sollte sie hineingehen und es ihnen sagen?
»Ich denke niiicht, meine Teuahste«, flüsterte Jessie mit ihrer rotznäsigsten »Elizabeth Taylor – Die Katze auf dem heißen Blechdach«-Stimme, und dann schlug sie die Hände über ein breites, albernes Grinsen. Und sie vermutete, dass sie auch keine Angst vor Störungen durch ihre Schwester haben musste, zumindest nicht so schnell; sie konnte Maddy und Will unten in der Rumpelkammer hören, wo sie gutmütig wegen eines Cooty- oder Candyland-Spiels zankten.
»Ich glaube nicht, dass es ihr schaden würde, morgen hier bei mir zu bleiben, du etwa?«, fragte ihr Vater mit seiner einnehmendsten, humorvollsten Stimme.
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Jessies Mutter, »aber es würde sie auch nicht gerade umbringen, wenn sie diesen Sommer einmal etwas mit uns anderen zusammen unternehmen würde. Sie ist durch und durch Papas Liebling geworden.«
»Sie war letzte Woche mit dir und Will in Bethel im Marionettentheater. Hast du mir nicht gesagt, dass sie bei Will geblieben ist – ihm sogar von ihrem Taschengeld ein Eis gekauft hat -, während du zum Flohmarkt gegangen bist?«
»Das war kein Opfer für unsere Jessie«, antwortete Sally. Sie hörte sich fast grimmig an.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, sie ist ins Marionettentheater gegangen, weil sie es wollte, und sie hat sich um Will gekümmert, weil sie es wollte.« Die Grimmigkeit war einem vertrauteren Tonfall gewichen: hilfloser Verzweiflung. Wie kannst du verstehen, was ich meine?, sagte dieser Tonfall. Wie könntest du das verstehen, als Mann?
Das war ein Ton, den Jessie in den letzten paar Jahren immer häufiger in der Stimme ihrer Mutter gehört hatte. Sie wusste, das lag teilweise daran, dass sie immer mehr hörte und sah, je älter sie wurde, aber sie war sich sicher, dass ihre Mutter diesen Ton auch immer häufiger anschlug als früher. Jessie konnte nicht verstehen, warum die Logik ihres Vaters ihre Mutter immer so auf die Palme brachte.
»Ist es plötzlich ein Grund zur Besorgnis, dass sie etwas macht, weil sie es will?«, fragte Tom dann. »Vielleicht sogar ein Punkt gegen sie? Was sollen wir nur tun, wenn sie neben ihrem Sinn für die Familie auch noch ein soziales Gewissen entwickelt? Sie in ein Heim für schwer erziehbare Mädchen stecken?«
»Mach dich nicht über mich lustig, Tom. Du weißt genau, was ich meine.«
»Nee; dieses Mal habe ich keinen blassen Schimmer, Herzblatt. Das hier sind angeblich unsere Sommerferien, schon vergessen? Und ich habe immer irgendwie gedacht, wenn Leute in den Sommerferien sind, können sie tun und lassen, was sie wollen und mit wem sie es wollen. Ich habe gedacht, genau das wäre der Sinn und Zweck von Sommerferien.«
Jessie lächelte, weil sie wusste, dass es bis auf das Anbrüllen gelaufen war. Wenn die Sonnenfinsternis morgen früh anfing, würde sie mit Daddy hier sein, und nicht mit Mrs. Mundgeruch und den anderen Dark-Score-Sonnenanbetern auf dem
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