Das Spiel
wäre, dass diese Monstrosität lebte, hätte Vansen sie nie für irgendetwas anderes gehalten als eine Statue. Das lockige Haar hing dem Riesen bis auf die Schultern, der Bart bis zur Körpermitte, und er war so schön wie nur irgendeine Götterstatue, als sei auch er von einem Meisterbildhauer geschaffen, nur dass die eine Seite seines Gesichts eine eingesunkene Ruine war: Ein Auge fehlte, und Wange und Stirn waren ein faltiger Krater, in dem die verschobenen Zähne sichtbar waren wie lose Perlen in einem Schmuckkasten.
Irgendwo tief unter ihnen erdröhnte so etwas wie ein gewaltiger Trommelwirbel, ein Hall, der Vansen auf die Ohren drückte und die gesamte Felskammer für einen flüchtigen Moment erbeben ließ, was jedoch niemand im Raum zu bemerken schien.
Ketten aller Größen und Stärken hingen um die Körpermitte des schrecklichen Gottwesens und baumelten ihm von Hals und Schultern, sodass nicht zu erkennen war, ob er sonst noch irgendwelche Kleidung trug. An den Ketten hingen hunderte seltsamer, runder Gegenstände. Als Vansens Augen sich an das Dunkel gewöhnten, erkannte er, dass alle diese Gegenstände abgetrennte Köpfe waren, manche blanke oder ledrig mumifizierte Schädel, andere noch frisch, mit zerfetzten Hälsen, aus denen Blut tropfte — Köpfe von Menschen, Zwielichtlern und sogar Tieren, Köpfe aller Art.
Plötzlich war Vansens Kindheitserinnerung wieder da, der Spottvers, den die älteren Jungen gerufen hatten, um den kleineren Angst einzujagen —
Jack-in-Eisen! Jack-in-Eisen wird aus den großen Tiefen kommen und dich holen! Er wird dir den Kopf abreißen!
Jack in Eisen. Kettenjack.
Es gab ihn wirklich.
Die Erscheinung hob einen Arm, so dick wie ein Baumstamm. Ketten schwangen und klirrten, und die Köpfe klimperten wie Glücksbringer am Armband einer Edelfrau. Der Bastardgott grinste, und sein schönes Gesicht schien förmlich aufzuplatzen, als er Zähne entblößte, die so groß waren wie Teller und so verwüstet wie die Steinstatuen,
ICH BIN KITUYIK!,
donnerte er, und seine Stimme war so schmerzhaft laut, dass Vansen auf die Knie und dann vornüber fiel und sich die Ohren zuhielt in dem vergeblichen Versuch, sich vor dem ohrenbetäubenden Lärm zu schützen. Erst als der Riese wieder sprach, merkte Vansen, dass er die Worte nicht mit den Ohren hörte, sondern in seinem Kopf.
Jedes normale Denken ging in dem Donnerhall unter, der jetzt seinen Schädel erfüllte.
WILLKOMMEN, STERBLICHE — OH, UND AUCH EINER VON DEN HOHEN, WIE ICH SEHE. WILLKOMMEN IN DER UNTERWELT. ICH VERSPRECHE EUCH EINEN NÜTZLICHEN TOD. UND DANACH WERDE ICH EUCH VIELLEICHT SOGAR DIE UNVERGLEICHLICHE EHRE ERWEISEN, EURE KLEINEN, ABER WOHLGEFORMTEN SCHÄDEL ZU TRAGEN!
18
Fragen ohne Antworten
Und in jener großen Schlacht zog der unvergleichliche Nushash schließlich die Sonne selbst vom Himmel und schleuderte sie Zhafaris, dem alten Herrscher Zwielicht, ins Gesicht, sodass dessen Bart Feuer fing. Zhafaris verbrannte zu Asche, und das, meine Kinder, war das Ende seiner schlimmen Herrschaft.
Nushash und sein Bruder Xosh verstreuten die Asche in der Wüste Nacht. Danach lud Nushash in seiner Großmut seine drei Halbbrüder ein, mit ihm eine neue Stadt der Götter auf dem Berg Xandos zu errichten. Argal der Donnerer und die anderen dankten ihm und schworen ihm Gefolgschaftstreue, planten aber insgeheim bereits, ihn zu verraten und sich des Götterthrones zu bemächtigen.
Offenbarungen des Nushash,
Erstes Buch
Obwohl sie nicht genau hätte sagen können warum, verbrachte Pelaya jetzt mehr Zeit im Garten als früher, selbst an Tagen wie heute, da das Wetter alles andere als gut war, tief hängende, graue Wolken und ein schneidender Wind vom Meer her. Es lag auch daran, dass ihr Vater, Graf Perivos, in letzter Zeit so viel zu tun hatte, dass ihm für seine Kinder gar keine Zeit blieb. Manchmal war er bis spät in die Nacht damit beschäftigt, die Verteidigungsanlagen der Stadt zu überprüfen, sodass er sogar in der Dokumentenkammer schlief und nur noch nach Hause kam, um die Kleider zu wechseln. Doch der Hauptgrund ihres neuen Interesses am Garten war schlicht und einfach der Gefangene Olin — König Olin, auch wenn er diesen Titel scherzhaft von sich wies. Sooft ihm Pelaya im Garten begegnet war, hatte sie es genossen, mit ihm zu reden, wenn es sich auch nie mehr so seltsam und aufregend angefühlt hatte wie beim ersten Mal, als er ihr noch völlig fremd gewesen war und ihre Gefährtinnen so entsetzt
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