Das Spiel
nichts tun!« Und wieder trabte sie hinter der Gestalt her, so schnell ihre müden, zitternden Beine es zuließen. Doch obwohl die Gestalt vor ihr sich nicht schneller bewegte, als es einem alten Holzfäller mit einem schweren Bündel zuzutrauen war, vermochte Briony einfach nicht aufzuholen. Sie gab ihr Letztes, kam aber nicht näher an die dunkle Gestalt heran. »Wartet! Ich tu Euch nichts! Ich habe Hunger und weiß nicht, wo ich bin!«
Der breite Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, mal ansteigend, dann wieder abfallend, und die Gestalt verschwand zwischendurch immer wieder im dichter werdenden Schattendunkel. Wieder gingen Briony die alten Geschichten durch den Kopf, von boshaften Kobolden und Irrlichtern, die Wanderer vom rechten Weg weglockten, damit sie im Wald oder Moor den Tod fanden.
Aber ich bin doch schon verirrt!,
dachte sie verzweifelt.
Was soll das denn noch?
Sie rief es sogar laut, doch die stumme Gestalt vor ihr beachtete es gar nicht.
Schließlich, als sie gerade im Begriff war aufzugeben, auf die Knie zu sinken und sich darein zu fügen, eine weitere Nacht allein in Kälte und Regen zuzubringen, schwenkte die Gestalt vom Pfad ab — langsam, so als wollte sie, dass Briony es sah — und verschwand im Dickicht. Als Briony an die Stelle kam, bemerkte sie nichts Außergewöhnliches. Wenn sie die Gestalt nicht hier hätte ins Unterholz einbiegen sehen, hätte man meinen können, sie hätte sich in Luft aufgelöst.
Falle,
warnte sie ein Teil ihrer selbst, aber dieser Teil war nicht stark genug, um sich über den hungrigen, einsamen und verzweifelten Rest hinwegzusetzen. Sie schlug sich ebenfalls ins dichte Unterholz, das Messer vor sich haltend. Schon nach wenigen Schritten stand sie an einer steilen Böschung, und abermals ein paar Schritte weiter trat sie aus dem Wald hinaus, in eine stille, grasbewachsene Senke. Auf dem Grund der Senke befand sich ein Lagerplatz — ein klappriger Wagen, ein grasendes, senkrückiges Pferd, das daneben angepflockt war, und ein Feuer. Beim Feuer stand die Gestalt im dunklen Mantel, das Bündel Feuerholz zu ihren Füßen.
Die Gestalt streifte die Kapuze des nassen Mantels zurück und enthüllte wirres weißes Haar und ein Gesicht, so alt und runzlig, dass Briony nicht erkennen konnte, ob es männlich oder weiblich war.
»Du hast dir Zeit gelassen, Tochter«, sagte das uralte Wesen. Die Stimme kennzeichnete es als Frau, wenn auch nur mit Mühe, denn sie war rau und kehlig, ein Mittelding zwischen Lachen und Knurren. »Ich dachte schon, ich müsste mich erst mal hinlegen und ein Nickerchen halten, damit du mich einholst.«
Briony hatte das Messer immer noch gezückt, doch jetzt musste sie sich erst einmal vornüber krümmen und die Hände auf die Knie stützen, während sie um Atem rang. Das trug ihr einen Hustenanfall ein, und der Schmerz in ihrer Brust trieb ihr die Tränen in die Augen. Schließlich richtete sie sich auf. »Ich ... konnte Euch ... nicht einholen.«
Die uralte Frau schüttelte den Kopf. »Was soll aus der Menschheit werden?«, war alles, was sie sagte. Dann legte sie neues Reisig ins Feuer. »Setz dich, Kind. Wie ich sehe, bist du krank — dagegen muss ich etwas tun. Bist du auch hungrig?«
»Wer ... wer seid Ihr? Ich meine, ja — o Gott, ja, ich bin am Verhungern.«
»Gut. Du wirst für dein Essen arbeiten, aber jetzt solltest du dich wohl erst mal ein bisschen erholen.« Die Alte musterte sie. Es war, als würde sie von einem wilden Tier angestarrt. Wieder stockte Briony das Herz. Die Augen der Frau waren weder blau noch grün und auch nicht braun, sondern so glänzend schwarz wie Vulkanglas. »Was du hier
nicht
tun sollst, ist singen. Von diesem unmelodischen Katzengeschrei haben wir genug.«
Trotz der unerwarteten, undurchsichtigen Situation war Briony in erster Linie beleidigt. »Ich habe nur versucht, mich auf den Beinen zu halten.« Sie ließ sich auf den Boden sinken und steckte das Messer wieder in die Scheide. Sie atmete noch immer schwer. Die alte Frau reichte ihr kaum bis an die Schulter und schien nicht mehr zu wiegen als ein Waisentags-Entenbraten.
»Dann war es vielleicht das Lied, Tochter«, sagte die Alte, während sie in einem Sack kramte, der vorn am Wagen hing. »Aus diesem Gregor habe ich mir nie viel gemacht. Viel zu selbstverliebt, und seine Verse hinken grauslich. Das habe ich ihm auch gesagt.«
Briony, die jetzt wieder etwas zu Kräften kam, schüttelte den Kopf. Vielleicht war diese Alte ein
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