Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
waren, lebte noch? Wo waren sie? Und apropos: Wo war er eigentlich?
Julian schlug die Decke zurück, richtete sich auf, stellte die Füße auf die kalten Steinfliesen und stand auf, nur um sofort wieder umzufallen. Schwärze war vor seinen Augen und ein surrendes Geräusch in seinem Kopf. Mit geschlossenen Lidern wartete er auf die Rückkehr von Atemnot und Schmerz, aber sie blieben aus.
Langsam kniete er sich hin, rutschte zum Fenster, legte die Hände aufs Sims und hangelte sich vorsichtig hoch. Es ging. Ihn schwindelte, am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus, und seine Knie waren weich, aber sie knickten nicht ein. Mit einer mageren, lächerlich kraftlosen Hand entriegelte er den linken Fensterflügel und stieß ihn auf. Er befand sich ziemlich hoch oben, im dritten oder vierten Stockwerk, nahm er an, im Eckturm einer Burganlage, deren gelblicher Sandstein in der Sonne fast gleißend schimmerte. Sein Fenster bot ihm einenBlick auf den weitläufigen Innenhof und das turmbewehrte Torhaus. Julian war nicht überrascht. Ein Teil von ihm hatte es längst gewusst: Er war in Warwick Castle.
Es war Frühling geworden. Kaum zu fassen, dass das helle Grün der Rasenflächen und dieser strahlend blaue Himmel derselben Welt angehören sollten wie die leichenübersäte Schneewüste von Towton. Er fragte sich, wie lange das her war. Tage? Wochen?
Auf unsicheren Beinen, die ihn kaum noch trugen, kehrte er zu dem breiten, komfortablen Bett zurück, setzte sich auf die hohe Kante und nahm sich selbst in Augenschein. Etwas, das mehr Ähnlichkeit mit Windeln als Beinlingen hatte, bedeckte seine Blöße, stellte er fest. Seine Brust und die linke Schulter waren bandagiert. Unterhalb des Verbands malten sich seine Rippen deutlich ab. Er glaubte sich zu erinnern, dass das früher auch der Fall gewesen war, aber er hatte eindeutig Gewicht verloren. Unfähig, seine Neugier zu bezähmen, fing er an, den Verband um seine Brust und Schulter abzuwickeln, und als er die letzte Lage mit einem Ruck entfernte, zog er scharf die Luft ein. Die Wunde, die der Pfeil hinterlassen hatte – kreisrund und fingerdick –, war gut abgeheilt, aber noch gerötet. Und empfindlich, stellte er fest, als er mit den Fingern der Rechten darüberstrich. »Autsch.«
»Geschieht Euch recht«, kam eine barsche Stimme von der Tür. »Was fällt Euch ein, meinen schönen Verband abzunehmen? Wollt Ihr Euch umbringen nach all der Mühe, die Ihr mir gemacht habt?«
Es war die Alte, deren Gesicht Julian aus wirren Fieberträumen kannte. Er nahm an, sie war die Kräuterfrau aus der Stadt unten. Ihr Blick war so unfreundlich, dass er keine Lust verspürte, sich zu entschuldigen. »Seit wann bin ich hier?«, fragte er und hielt ihr die unordentlich aufgewickelte Binde hin.
Sie trat näher, nahm sie ihm ab und legte ihm den Verband wieder an, mit mehr Ungeduld als Feingefühl. »Zwei Wochen«, antwortete sie.
»Ich muss sagen, ich bin froh, dass ich den Großteil deinerBehandlung verschlafen habe«, bemerkte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ah ja? Wenn es nach mir gegangen wär, hätten sie Euch verrecken lassen.«
»Das glaub ich aufs Wort.«
Sie trat einen Schritt zurück und bedachte ihn mit einem giftigen Blick. »Zwei meiner Enkel sind bei Towton gefallen. Wer weiß, vielleicht von Eurer Hand.«
Julian hatte nicht die Absicht, eine Rechnung mit ihr aufzumachen. Und er wollte nicht an Towton denken. Jedenfalls noch nicht. »Dann entbinde ich dich von der Pflicht, dich meiner weiterhin anzunehmen«, antwortete er kühl. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, aber du brauchst nicht wiederzukommen.«
Sie ging grußlos hinaus.
Erschöpft ließ Julian sich in die Kissen sinken und schlief fast augenblicklich wieder ein.
Am nächsten Morgen fühlte er sich schon ein wenig kräftiger. Er fand einen Teller mit Brot, welches in Milch eingeweicht worden war, und aß so viel davon, wie er herunterbrachte. Den Becher Wein leerte er vollständig, denn er hatte immer noch fürchterlichen Durst. Dann sah er sich in der Kammer um. Er wusste, er befand sich im Caesar’s Tower, jenem Gebäude, das auch der Earl of Warwick mit seiner Familie bewohnte, wenn er hier weilte und nicht auf seiner bevorzugten Burg in Middleham. Als Knappe hatte Julian selten Anlass gehabt, eins dieser vornehmen Gemächer zu betreten, sondern mit den anderen Jungen in einer zugigen Kammer in einem Nebengebäude gehaust. Er setzte sich auf die Fensterbank, lehnte die
Weitere Kostenlose Bücher