Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
auf. Sie musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. »Es ist nicht das erste Mal, dass sie uns gefunden haben. Aber so knapp war es noch nie.«
»Sie finden euch, aber sie wissen nicht, dass es Jasper ist, den sie aufspüren?«
»Solange sie ihn nicht kriegen, haben sie nie mehr als einen Verdacht, nicht wahr?«
Julian nickte. »Dann lass uns lieber zusehen, dass sie ihn auch heute nicht schnappen.«
Sie hatten nur zehn Pferde, waren aber sechzehn Personen, Owen nicht mitgezählt. Schnell, lautlos und diszipliniert teilte Julian im Hof die Reiter ein: Blanche saß mit Owen hinter Jasper auf, der Bauer, der ihr Gastgeber gewesen war, hinter Stephen, den hünenhaften fiebernden Tischler mit dem übelriechenden Stumpf nahm Julian selbst vor sich mit aufs Pferd. Dann ritten sie aus dem Tor. Noch war kein Hufschlag zu hören,aber gar nicht weit entfernt sahen sie einige Lichtpunkte näher kriechen: Fackeln.
Jasper lenkte sein Pferd in die entgegengesetzte Richtung auf den Wald zu.
»Wir werden sie niemals abhängen«, raunte Julian ihm zu.
»Das brauchen wir auch nicht«, gab Jasper ebenso leise zurück. »Im Wald zerstreuen wir uns und verbergen uns im Unterholz. Bei dem Wetter finden sie uns nicht, Fackeln hin oder her. Eine Stunde vor Sonnenaufgang treffen wir uns ein paar Meilen hinter Pembroke an der Küste. Da liegt mein Schiff.«
»Du hast ein Schiff? Ich dachte, ein Boot.«
»Ich habe mich in der Zwischenzeit verbessert«, gab Jasper trocken zurück. »Da Marguerite neuerdings gelegentlich in Frankreich oder Burgund weilt, brauchte ich etwas Seetüchtiges.«
»Du willst zu ihr?«, fragte Blanche.
Jasper nickte in der Dunkelheit. »Heute war das dritte Mal in acht Wochen, dass sie uns beinah erwischt hätten, Blanche. Ich denke, wir sollten gehen, solange wir noch können. Nur ein Weilchen«, fügte er hastig hinzu, als wolle er ihren Einwänden zuvorkommen.
Blanche brachte keine vor. Sie wusste, er tat es, weil sie möglicherweise ein Kind erwartete. Sie war ihm dankbar, dass er solche Rücksicht auf sie nahm, aber vor allem verabscheute sie es, wenn sie ihn behinderte. Darum hatte sie ihm nichts von ihrem Verdacht gesagt. Seufzend legte sie die Arme um seine Taille und verschränkte die Finger ineinander. »Also meinetwegen. Ich kann’s kaum erwarten, wieder seekrank zu werden …«
Jasper lenkte sein Pferd neben Stephens und sagte zu dem jungen Bauern: »Warte ab, ob sie deinen Hof niederbrennen. Wenn nicht, kannst du gefahrlos zurück. Wenn doch, geh zu Eiwin ap Davydd, bis ich wiederkomme. Sag ihm, ich schicke dich, dann wird er dich aufnehmen. So oder so: Geh auf die Burg hinauf und sag Rhys, was passiert ist. Richte ihm aus, ich bin in spätestens drei Wochen zurück.«
»Wird gemacht.« Der junge Bauer glitt zu Boden. »Gott schütze Euch, Mylord. Jetzt reitet zu, ich hör sie kommen.«
Chinon, Juli 1462
Auch Seekrankheit war
eine Familientradition, mit der Julian zu brechen gedachte, und tatsächlich blieb er gänzlich davon verschont – ganz im Gegensatz zu seiner Schwester. Kaum hatte Jaspers Karacke, die Red Rose , aus dem kleinen natürlichen Hafen nördlich von Pembroke abgelegt, wurde Blanche grün um die Nase. Eine Stunde später hing sie über der Reling, wo sie fast während des gesamten Reiseverlaufs blieb. Julian bedauerte sie, doch um nichts in der Welt hätte er diese Fahrt missen wollen.
Da er in Kent aufgewachsen war, war er davon ausgegangen, dass eine Seereise nach Frankreich einen Tag oder eine Nacht dauerte, denn wenn man von Dover oder Sandwich Richtung Kontinent segelte, war das in der Regel der Fall. Wäre er in der Nähe von Plymouth oder Southampton groß geworden, hätte er gewusst, dass man durchaus auch von zwei Tagen ausgehen musste, länger, wenn der Wind ungünstig stand.
Von Wales aus, das viel weiter westlich lag, plante man Reisen nach Frankreich ganz anders. Jasper, der wusste, dass Marguerite sich in Chinon aufhielt, hatte keineswegs die Absicht, einen der normannischen Häfen oder das englisch besetzte Calais anzulaufen, sondern segelte entlang der bretonischen Küste südwärts bis zur Mündung der Loire, dann weiter flussaufwärts Richtung Orléans.
So kam es, dass ihre Schiffsreise drei Tage dauerte. Für Blanche war es ein Martyrium, doch Julian entdeckte im Verlauf dieser drei Tage seine Liebe zur See. Im Grunde war es schon um ihn geschehen, als er den ersten Fuß auf die Deckplanken der Red Rose gesetzt hatte. Das schlanke zweimastige
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