Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
Constable of the Tower, Sir Hugh Wylford, ersparte Julian weitere Debatten. Man hatte sie in der Wachkammer im Erdgeschoss des Wakefield Tower warten lassen, und als der Befehlshaber eintrat, schüttelte er sich die Regentropfen aus den schulterlangen Haaren, ehe er sich knapp vor Julian verneigte. »Mylord of Waringham.«
Julian nickte. »Wylford.« Er war ebenso wenig um Höflichkeit bemüht wie der Constable. »Wo ist der König?«
»Keine Ahnung«, bekam er zur Antwort. »In East Anglia, soweit ich weiß.«
Julian lächelte schmallippig. »Ich meine König Henry, Sir.«
»Ach so .« Wylford tat, als ginge ihm ein Licht auf. »Seine höchst schwachsinnige Majestät.«
Julian sah ihn unverwandt an und sagte nichts. Er wusste sehr wohl, er hatte solche Dinge früher selbst gesagt. Frotzelte noch heute im vertrauten Kreis gern über Henrys Geisteszustand. Aber das hieß noch lange nicht, dass dieser Yorkist das Recht hatte, Henry zu verhöhnen.
Wylford wurde offenbar mulmig unter dem langen Blick. Er wandte sich ab und brummelte: »Folgt mir, Mylord. Er ist in seinen Gemächern und um diese Tageszeit vermutlich beim Gebet.«
»Gemächer« war nicht ganz zutreffend, denn man hatte dem abgesetzten König genau einen Raum zugestanden, ein achteckiges Gemach im ersten Obergeschoss – groß, aber zugig – mit einem hohen Deckengewölbe. Vor langer Zeit war dies einmal die Halle gewesen, in welcher der König Audienz hielt. An einer der acht Seiten stand heute ein breites Bett mit schlichten dunklen Vorhängen, nahe der Tür ein Tisch mit zwei Schemeln, und dem Bett gegenüber befand sich in einer Nische hinter einem Wandschirm eine kleine Kapelle. Der Raum hatte zwei Fenster zum Fluss, und Julian wusste, bei gutem Wetter war er hell und freundlich. Es war nicht das Schlimmste, was einem König passieren konnte, für den niemand mehr Verwendung hatte.
Julian hörte Henry hinter dem Wandschirm vor sich hin murmeln, und weil ihm nicht der Sinn danach stand, dem frommen Geraune stundenlang zu lauschen, machte er sich bemerkbar: »Gott zum Gruße, Sire.«
Henry, der mit dem Rücken zum Raum kniete, ließ die gefalteten Hände sinken und wandte den Kopf. Sein Haar war spärlich geworden und hatte eine gelblich weiße Farbe angenommen.Das bleiche Gesicht war gefurcht, die Farbe der dunklen Augen verblasst – ein Greis von achtundvierzig Jahren.
Doch der Eindruck wurde ein wenig abgemildert, als Henry lächelte. »Waringham! Wie freundlich von Euch.«
Verstohlen atmete Julian auf. Henry hatte ihn erkannt, also war heute ein guter Tag. Ein Tag der Klarheit. Sie schienen in letzter Zeit nicht einmal so selten.
Vor vier Jahren war der König seinen Feinden ein zweites Mal in die Hände gefallen. Mutterseelenallein war er an einem kalten Novemberabend auf dem Rücken eines erbärmlichen Kleppers durch einen Wald in Lancashire geirrt. Die yorkistische Patrouille, die ihn auflas, hatte behauptet, er habe geweint und vor sich hingebrabbelt und über Kälte und Durst geklagt. Julian hielt das nicht für undenkbar, aber es war ebenso gut möglich, dass sie sich das ausgedacht hatten, um das Ansehen des Hauses Lancaster weiter zu schmähen. Sie hatten den König an die Steigbügel seines mageren Gauls gefesselt und nach London gebracht, und seither »residierte« Henry im Tower of London.
Es waren nicht Lancaster-Treue oder gar Ergebenheit für diesen Jammerkönig, die Julian bewogen, ihn hin und wieder zu besuchen, sondern Scham. Während der verlustreichen Rückzugsgefechte zu jener Zeit, als der lancastrianische Widerstand im Norden zusammengebrochen war, hatten er und seine Gefährten den König irgendwie … vergessen. Keiner hatte gewusst, wo er eigentlich war, niemand hatte sich um ihn gekümmert und ihn beschützt. So war er ihren und seinen Feinden in die Hände gefallen, von allen verlassen, und Julian hatte ein schlechtes Gewissen.
Mühsam und unter leisem Ächzen kam der König auf die Füße. Julian hörte die Knie knacken, so laut, dass er fast zusammengezuckt wäre.
»Reicht mir den Arm, mein junger Freund«, bat Henry, und als Julian der Bitte folgte, stützte der König sich schwer auf ihn und ließ sich langsam und schlurfend zum Tisch geleiten, wo er auf einen der Schemel sank. »Was verschlägt Euch nach London?«
»Ich komme aus Brügge, und wir haben heute Morgen hier am Wool Quay festgemacht.«
Henry nickte zerstreut. »Ich war nur einmal auf dem Kontinent«, erinnerte er sich. »Als Junge zu
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