Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
Gott, und komm schnell wieder«, sagte Blanche.
Jasper kam nicht gleich am nächsten Tag zurück, aber sie hörten auch keine Hiobsbotschaften aus Westminster. Also fasste Blanche sich in Geduld und genoss den Frühling in Waringham. Sie verbrachte viel Zeit im Gestüt, lernte die Frau ihres Neffen Roland kennen und schätzen und bemühte sich behutsam, den Groll ihres Bruders auf das junge Paar zu besänftigen. Sie besuchte alte Freunde im Dorf, ritt zu all ihren Lieblingsplätzen im Wald und schwelgte in dem Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Die Fremdheit, die sie zu Anfang empfunden und die sie so bedrückt hatte, war nach wenigen Tagen verflogen.
»Hier, Mortimer, ich habe etwas für dich«, sagte sie zum Knappen ihres Bruders, den sie zusammen mit Richmond im Rosengarten entdeckt hatte. Es war sonnig, aber windig und kühl. Trotzdem hatten sie sich mit einem dicken Buch auf einer der steinernen Bänke niedergelassen und beugten die Köpfe über die Seiten. Die beiden jungen Männer waren unzertrennlich, seit sie nach Waringham gekommen waren. Sie übten sich gemeinsam auf dem Sandplatz in ihren Waffenkünsten, ritten das Training der Zweijährigen mit, halfen mit Feuereifer bei den Vorbereitungen für die große Pferdeauktion und den Jahrmarkt, aber auch die Liebe zur Literatur war etwas, das sie verband.
Sie sahen auf, als Blanches Schatten auf sie fiel.
Blanche hielt Mortimer das kleine, in Seide geschlagene Büchlein hin, das sie in der Truhe ihrer Eltern gefunden hatte.
»Was ist es?«, fragte der Junge und nahm es zögernd.
»Schau hinein«, drängte sie.
Mortimer schlug die erste Seite auf, wo in einer gestochenen Handschrift ein Gedicht stand, das von der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter sprach.
»Dein Großvater hat diese Gedichte geschrieben«, erklärte Blanche. »Die Tochter, von der er spricht, mag sehr wohl deine Mutter gewesen sein. Lies sie in Ruhe. Sie sind wundervoll. Vielleicht wirst du lernen, dich für deine eigenen Gedichte nicht mehr zu genieren, wenn du siehst, woher deine Gabe kommt.«
Mortimer errötete bis in die Haarwurzeln und hielt den Blick auf die Zeilen seines Großvaters gesenkt. »Woher wisst Ihr, dass ich gelegentlich ein Gedicht schreibe, Mylady?«
»Von Berit. Sie hat in deiner Kammer sauber gemacht und eins gefunden. Und weil sie es nicht lesen konnte, hat sie es mir gebracht. Vor Berit ist kein Geheimnis sicher, weißt du. Aber ich gebe dir dein Gedicht wieder, wenn du willst. Es ist übrigens sehr gut.«
Endlich gelang es Mortimer, sie anzusehen. Ein verlegenes Lächeln erhellte sein hübsches Gesicht. »Danke, Madam. Ich finde sie immer gut, wenn ich sie schreibe, und eine Woche später kommen sie mir grauenvoll vor.«
Sie nickte. »Ich nehme an, das liegt an deiner Jugend. In deinem Alter verändert man sich von einer Woche zur nächsten.«
Richmond nahm seinem Freund den kleinen Gedichtband aus den Händen und blätterte darin. »›Erinnerung an einen Becher Wein an einem Sommerabend‹«, zitierte er amüsiert. »Welch nobles Thema …«
»Oh, das ist es«, erklärte Blanche mit Nachdruck. »Wenn die Welt um einen herum düster wird, sind es manchmal die Erinnerungen an die kleinen Freuden, die einen davor bewahren, den Verstand zu verlieren.«
»Ja.« Richmond wandte den Blick ab und nickte. »Ich glaube, das stimmt.«
Blanche fragte sich wohl zum hundertsten Mal, was dem Jungen in den Jahren als Black Will Herberts Geisel alles widerfahren war. Aber sie ließ sich ihre Sorge nicht anmerken, denn sie wusste, dass er das verabscheute. Stattdessen sagte sie zu Mortimer: »Ich finde, du solltest das Büchlein behalten. Aber ich will eine Abschrift. Wenn wir nach London zurückkehren, bringen wir es zu einem Kopisten, einverstanden?«
Mortimer schüttelte den Kopf. »Ich schreibe es für Euch ab, Lady Blanche. Kopisten sind oft so schlampig.«
»Abgemacht. Und nun will ich euch nicht weiter bei der Lektüre stören. Habt ihr meinen Bruder zufällig gesehen?«
»Gestüt«, sagten die Jungen wie aus einem Munde.
Doch schon am Torhaus kam Julian ihr entgegen. Er war unrasiert, seine Kleidung staubig, aber seine Wangen hatten eine frische Farbe von der klaren Frühlingsluft, und er wirkte gelöst. Robin lief neben ihm her und schien eifrig zu debattieren. Den stillen Edmund trug Julian auf den Schultern.
Blanche sah ihnen entgegen. »Mögen deine Söhne und du einander immer so innig verbunden sein wie heute, Bruder«, sagte sie
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