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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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dabei im Raum gewesen war; nur, weil er öfter an jenen Tag gedacht hatte, war ihm auch der Satz wieder eingefallen, ein kleines, kühnes Wortgeklingel, das ihm nicht aus dem Sinn ging, weil man mehr daraus machen konnte. Das hatte er gerade getan. Alle Zweifel fielen von ihm ab. Es war neu, dass sich ein Sänger so ankündigte: nicht demütig, nicht bittend und mit keinem geringeren Versprechen als dem, mit seinen Worten die Geschicke der Welt in eine bestimmte Richtung zu lenken, indem er die Lenker durch Lob und Spott beeinflusste. Wenn ihm das gelang, wenn er das wahr machen konnte, dann würde es jeden Abend, jede Nacht in den Schenken gesungen werden und ihn bekannt machen.
    Philipp trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    »Einen Versuch ist es wert«, sagte er.
    * * *
    Für Judith war es einfacher, an ihren Onkel als Stefan denn als Avram zu denken. Sie hatte Avram nie gekannt, nur aus ein paar Geschichten ihrer Mutter, und es erlaubte ihr, den Mann als einen Fremden kennenzulernen, nicht als jemanden, den sie eigentlich fast so gut wie ihren Vater kennen müsste. Umgekehrt berührte es sie eigenartig, dass er sie Jutta nannte, nicht Judith, doch vielleicht ging es ihm ähnlich wie ihr. Oder er wollte sich nicht versprechen, denn sie reisten nicht alleine: Er war mit Knechten und einem Schreiber nach Nürnberg gekommen, und keiner von ihnen schien zu wissen, dass Stefan nicht als Christ geboren worden war. Als sie an einem Freitag in Würzburg eintrafen und Stefan dem befreundeten Kaufmann, bei dem sie unterkamen, sagte, sie würden erst am Montag weiterreisen, bemerkte sein Schreiber zwar, sie hätten es doch eilig. Als aber Stefan meinte, zwei Tage Rast seien gut für die Tiere und am Sonntag unterwegs zu sein zieme sich nun einmal nicht, fragte der Mann nicht weiter. Er ging auch sofort mit den anderen Knechten los, um die Würzburger Schenken und Badehäuser heimzusuchen, als Stefan ihm dies vorschlug.
    Es war nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang, als ihr Onkel mit einem Korb in der Hand zu ihr kam. Sie erkannte den Duft, noch ehe er das Leinen lüftete, den Duft frisch gebackenen Weizenbrots, braun glänzend und geformt wie ein geflochtener Zopf. Wer in Würzburg für ihn Schalet gebacken hatte, verriet Stefan nicht, noch fragte ihn Judith danach; der Anblick des Sabbatbrots selbst war gleichzeitig ein Geständnis und eine Bitte. Sie schaute von dem Brot zu ihrem Onkel und begann, die in ihren Überrock genähten Taschen zu leeren, wie es sich als Vorbereitung auf den Sabbat ziemte. Dann holte sie das weiße Tuch aus ihrem Gepäck, das den langen Weg von Köln nach Salerno und zurück mit ihr gemacht hatte, und breitete es auf dem Tisch aus, der in dem Zimmer stand, das man ihr gegeben hatte. Ihr Onkel nahm Kerzen und Wein aus dem Korb, Judith holte aus der Reisetruhe unter ihren Kleidern den Leuchter und den Kiddusch-Becher hervor, die ihrem Vater gehört hatten. Eigentlich hätten sie beide baden und von Kopf bis Fuß neue Kleidung anziehen müssen, doch das war in der kurzen Stunde bis Sonnenuntergang nicht mehr möglich, und so mussten sie es dabei belassen, sich Gesicht und Arme zu waschen und in neue Überkleider zu schlüpfen.
    Während die Sonne tiefer sank, fragte Judith sich, ob es in Würzburg eine Synagoge gab, und versuchte, nicht an die neue Synagoge in Wien zu denken, auf die Vetter Salomon so stolz gewesen war. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die Worte ihres Vaters. Gott sprach mit den Kindern Israels und sagte: »Kinder, wenn ihr die Thora annehmt und ihre Vorschriften befolgt, mache ich euch ein kostbares Geschenk.« – »Und was wäre das für ein Geschenk«, fragten die Kinder Israels. – »Die kommende Welt.« – »Sag uns, wie die kommende Welt sein wird!«, forderten die Kinder Israels. Und Gott erwiderte: »Ich habe euch schon den Sabbat gegeben. Der Sabbat schmeckt wie die kommende Welt.«
    Ihr Vater hatte jeden Freitag das Haus verlassen, um die Synagoge zu besuchen, mit den anderen Gemeindemitgliedern die Psalmen zu rezitieren und die Willkommenslieder für den Sabbat zu singen. Dann wurde von den Trauernden das Kaddisch für die Toten gesprochen. Als nun die Dämmerung anbrach, hörte Judith ihren Onkel die alten Worte sagen, als sei er in dem Gotteshaus, wo er nicht länger willkommen war. Sie fügte ihre Stimme der seinen bei, und da, wo er zögerte, sprach sie weiter.
    Als die Sonne fast gänzlich gesunken war, legte Stefan Feuersteine

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