Das Spiel der Nachtigall
auf den Tisch, Judith entzündete die Kerzen des Leuchters. Jede Flamme schien einen Tropfen Bitterkeit aus ihrem Herzen zu ziehen, bis sie alle brannten. Sie hob ihre Hände gegen die Lichter und sprach den Segen, den sie zuerst als kleines Kind von ihrer Mutter gehört hatte, den Kerzensegen, der immer das Recht der Hausfrau war. »Lob nun, ja lob dir o Gott, unser Gott und König des All Du. Der sich zuschwor uns durch sein Gebot und schrieb uns vor, des Sabbats Licht zu entzünden.« Auch Stefan hob seine Hände und sprach den Segen des Hausherrn über die Töchter: »So mache dich Gott wie Sarah, Rebecca, Rahel und Leah. Er segne und behüte dich. Er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Er hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«
Sie hatte keinen Frieden mehr gespürt, seit sie ihren toten Vater in den Armen gehalten hatte, doch nun, in einer fremden Stadt, mit ihrem kaum bekannten Onkel und in dem Bewusstsein, dass sie beide die Ihren auf unterschiedliche Weise verraten hatten, in dieser Stunde kehrte der Friede zu ihr zurück. »Schalom«, sang Stefan, »schalom alechem«, und sie sang das alte Lied mit ihm, voller Dankbarkeit und Freude.
Während Stefan für sie das Frauenlob sang, füllte Judith den Kiddusch-Becher bis zum Rand mit dem Wein, den ihr Onkel mitgebracht hatte. Sie erhoben sich beide, und er hielt den Becher in seinen Händen, während er die Beschreibung des siebten Weltschöpfungstags zitierte, so wie Gott sie den Menschen in der Thora gegeben hatte: »Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag, also werden vollendet Himmel und Erde und all ihr Heer. So vollendete Gott am siebenten Tag sein Werk, das er gemacht, und ruhte am siebenten Tag von all seinem Werk, das er gemacht. Und es segnete Gott den siebenten Tag und heiligte ihn, darum dass er an ihm geruhet von all seinem Werk, das erschaffen Gott und gemacht.«
Er setzte sich und trank von dem Wein, vorsichtig und sehr, sehr behutsam, als sei er ein Verdurstender, der in der Wüste eine Oase gefunden hatte und langsam trinken musste, um nicht an seiner Rettung zu sterben. Als er ihr den Becher weiterreichte, schmeckte sie die herbe Süße, die so anders als bei den Weinen in Salerno war, und blinzelte ein paar Tränen fort, die ihr in die Augen gestiegen waren. Erst, als er bereits beim Schneiden des Sabbatbrots angelangt war und es in Salz tunkte, da sah sie wieder klar.
»Meine Gemahlin«, sagte ihr Onkel, nachdem sie das Brot gesegnet hatten und davon aßen, »ist eine aufrichtige Christin. Sie hat nie etwas anderes gekannt, und meine Kinder desgleichen. Ich wollte sie nicht in Furcht aufwachsen lassen. Weißt du, was die Christen mit einem Juden tun, der einer der Ihren geworden ist und rückfällig wird? Es ist kein guter Tod; ich wünsche ihm nicht meinem ärgsten Feind.«
»Warum unternimmst du dann Botengänge für den Erzbischof von Köln?«, platzte Judith heraus. »Kannst du Gerhard Unmaze nicht bitten, dich andere Dinge tun zu lassen?«
»Das könnte ich, doch dann würde er sich fragen, warum. Es ist mir gelungen, dass Gerhard und alle aus meiner Gilde mich anschauen und nur den Kaufmann sehen, einen von ihnen. Kein Kaufmann würde sich weigern, eine Aufgabe zu übernehmen, die ihn dem mächtigsten Mann im Rheinland und einem der mächtigsten im Heiligen Römischen Reich näher bringt. Wenn ich Gerhard bitten würde, mich nur an Geschäften zu beteiligen, die mich nicht mit dem Erzbischof in Verbindung bringen, dann würde er mir die Bitte wohl erfüllen, doch er würde mich anschauen und von nun an wieder denken: Jude. «
Judith konnte nicht behaupten, dass sie ihn nicht verstand; sie war erst bei ihrem Abschied in der Lage gewesen, Irene die Wahrheit zu sagen. »Es wundert mich nur, dass ein Botengang überhaupt nötig war«, sagte sie, um zu zeigen, dass ihre Frage nicht verurteilend gemeint war. »Kommt denn der Erzbischof nicht auch zur Hochzeit? Da kann er doch nach Herzenslust mit dem Bischof von Passau sprechen, worüber er möchte.«
Ihr Onkel hüstelte. »Ich … glaube nicht.«
Zuerst wollte sie nachfragen, ob er meinte, dass die Bischöfe während der Hochzeit nicht miteinander sprechen konnten oder dass der Erzbischof nicht vorhatte, überhaupt zu der Hochzeit zu erscheinen. Natürlich liebte man in Köln die Staufer nicht, aber eine Hochzeitsfeier des Kaiserbruders mit einer byzantinischen Prinzessin war eigentlich keine Einladung, die ein so hochgestellter Fürst
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