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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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geworden, ihren Onkel nicht zu begleiten. Nun, hätte er wirklich die Masern gehabt, so wäre es grob undankbar von Judith gewesen, ihre Hilfe zu verweigern. Also fand sie sich mit Gilles und Stefan auf dem Weg in Richtung Aquitanien wieder, denn dorthin wollte ihr Onkel ziehen, um keinen Geringeren als den König von England zur Königswahl nach Köln zu bitten.
    »Warum nicht nach England?«, platzte Judith heraus, weil es höflicher war als das, was sie wirklich fragen wollte.
    »Oh, König Richard hält sich so gut wie nie in England auf«, sagte ihr Weggefährte Gilles aufgeräumt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er noch ein oder zwei Wochen in Ruhe am gleichen Ort bleiben sollen, aber Stefan hatte ihn zu seinem Reisebegleiter gemacht, wohl auch, um zu verhindern, dass er in Köln mehr plauderte, als er sollte. Gilles schien es mit Fassung zu tragen. Wenn er nicht gerade nach seinem mehrwöchigen Gewaltritt vor ihren Augen zusammenbrach, war er offenbar ein sehr gesunder Mann von etwa dreißig Jahren mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck und einer großen, kräftigen Statur. »Er ist in Aquitanien bei seiner Mutter aufgewachsen, und die festländischen Besitzungen seines Reichs sind ihm die liebsten. Außerdem liegen er und der französische König in Dauerfehde miteinander, und die können sie hier am einfachsten austragen.«
    Es gab wohl keine Möglichkeit, als direkt zu fragen: »Onkel, lass mich prüfen, ob ich dich recht verstehe: Dir war der Weltenhunger des Kaisers zu viel, aber jetzt wollen du und deine Freunde ihn durch einen Herrscher ersetzen, der dafür berühmt ist, dass er Krieg führt, seit er die Wiege verlassen hat, und der noch nicht einmal unsere Sprache spricht?«
    »Nein, nein«, gab Stefan beschwichtigend zurück, »darum geht es nicht. Natürlich werden wir König Richard einladen, das entspricht der Höflichkeit, doch kein Mensch glaubt, dass er kommen wird. Nicht nur, weil er, wie Gilles richtig sagte, im Dauerkrieg liegt, sondern weil er bei seinem letzten Aufenthalt auf deutschem Boden wahrlich üble Erfahrungen gemacht hat. Der Kaiser hat ihn zum Schluss sogar noch gezwungen, ihm den Vasalleneid zu leisten und sich zum Lehnsmann des Heiligen Römischen Reiches zu erklären, ehe er und der Herzog von Österreich ihn freiließen. So etwas vergisst ein Mann mit König Richards Stolz nie. Aber er wird es unwiderstehlich finden, ebenjenen Lehnseid nun zu seinem Nutzen einsetzen zu können. Wenn er ein deutscher Vasallenfürst ist, dann hat er schließlich auch eine Stimme bei der Wahl des Königs. Noch wichtiger ist, was er außerdem noch hat: drei Neffen, die deutsche Fürsten sind, die Söhne Heinrichs des Löwen. Glaub mir, in den letzten zwanzig Jahren habe ich mehr und mehr Menschen klagen hören, die einst den Rotbart gegen den Löwen unterstützten, die Welfen wären für das Reich besser gewesen. Nun gibt es eine Gelegenheit für jedermann, den alten Fehler wiedergutzumachen.«
    Zuerst sagten Judith seine Worte nichts, doch dann kam die Erinnerung zurück, die Erinnerung an jenen verwünschten Tag und an den blonden jungen Edelmann, der sie bei der Kehle gepackt und ihr mit der größten Selbstverständlichkeit mit dem Tod ihres Vaters gedroht hatte. »Und welchen der Söhne Heinrichs des Löwen«, fragte sie gepresst, »wünscht ihr euch auf den Thron, du und deine Freunde?«
    »Den Pfalzgrafen Heinrich von Braunschweig, selbstverständlich«, erwiderte Stefan. Judith atmete wieder leichter, während ihr Onkel nieste; der Beifuß machte ihm noch zu schaffen. Über diesen Mann wusste sie nur, dass er der Älteste der Welfensprösslinge war und damit der Bruder jenes Otto von Poitou, mit dem sie in Österreich zu tun gehabt hatte. Trotzdem erschien es ihr merkwürdig, warum ihr Onkel solches Vertrauen in die Welfen setzte. Was machte ihn so gewiss, dass sie anders als die Staufer sein würden? Es entsprach nicht der Denkweise, die sie bei ihm kennengelernt hatte.
    »Du willst also den König von England einladen, seinen Neffen zum deutschen König wählen zu lassen. Wenn das dein Ziel ist, warum bist du dann nicht nach Braunschweig unterwegs?«
    »Weil der Pfalzgraf noch auf dem Kreuzzug weilt«, warf Gilles ein und lachte. »Wahrscheinlich versucht er jetzt genauso wie die anderen Herren, ein Schiff zu bekommen, denn er war bereits im Heiligen Land. Meister Stefan weiß, dass man als einfacher Mann erheblich schneller reist denn als zukünftiger König mit Kriegsknechten und

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