Das Spiel der Nachtigall
Allwissenheit eines jungen Mannes, der sein Leben noch vor sich hatte. Es war manchmal nicht auszuhalten, mit ihm zusammen zu sein. War Reinmar vor ein paar Jahren auch so überzeugt gewesen, alles über das Leben und die Liebe zu wissen? Vermutlich. Wenn man Menschen sterben sah, sei es auf dem Kreuzzug durch Pfeil, Lanze oder Schwert, oder an einer Krankheit, wenn die Mädchen, deren Lächeln einem einst das Herz höher hatten schlagen lassen, nach sieben Kindern und noch mehr Fehlgeburten zu alten Frauen wurden, wenn das eigene Herz ein paarmal gebrochen worden war und man nicht länger glaubte, unsterblich zu sein, erst dann verlor man diese jugendliche Selbstgerechtigkeit. Erst dann wusste man, wie kostbar ein Augenblick war. Wie viel die Berührung von Fingerspitzen bedeuten konnte. Warum ein Lied nicht einer wirklichen Frau gelten durfte, denn alles Fleisch war des Todes und zerfiel zu Staub, sondern einem Ideal, das wahrlich alterslos und unsterblich blieb. Walther würde das noch früh genug herausfinden, wenn sein braunes Haar schütter oder grau werden würde, wenn aus den Sommersprossen auf seinem Gesicht Altersflecken geworden waren. Falls er überhaupt so lange lebte, statt sich vorher um Leib und Leben zu reden. Er würde die Wahrheit von Reinmars Worten verstehen, wenn ihn die Gicht plagte und ein warmer Körper nicht mehr tat, als die Winterkälte fernzuhalten, ohne das Herz zu erwärmen. Und doch ist es gut, dass er jetzt noch nicht begreift, wie töricht er oft ist, dachte Reinmar und unterdrückte den Wunsch, selbst noch einmal so sein zu können.
Heute Abend würde er für den Herzog singen, ein gutes Lied, ein zeitloses, darüber, was es hieß, allein durch den Anblick seiner Dame glücklich zu werden. Es würde sie beide der rauhen Wirklichkeit entheben. Vielleicht würde Leopold dabei auch erkennen lassen, warum er die Herzogin seit seiner Rückkehr vom Hoftag in Gelnhausen, wo er mit dem Kaiser zusammengetroffen war, nicht mehr um sich haben wollte. Vielleicht führt das Lied dazu, die beiden wieder miteinander zu versöhnen und das Rätselraten am Hofe verstummen zu lassen. Und wenn das Kaminfeuer stark genug geschürt wurde, dann könnten sie alle zumindest die Winterkälte vergessen, für eine Weile.
Als Reinmar seinem Pferd das Knie in den Leib drückte, um seinem Herrn zu folgen, blendete ihn die Sonne für einen Moment, so dass er blinzelte. Auf diese Weise sah er nicht, was das Pferd des Herzogs zum Scheuen brachte; ein Hase mit weißem Pelz, sagten die anderen Ritter später. Für das Pferd musste es so ausgesehen haben, als würde der Schnee für einen Moment lebendig. Es wieherte erschrocken, stieg auf, und der Herzog, der im Heiligen Land mit den besten Streitern Saladins gefochten hatte, ohne sich eine ernsthafte Verwundung zuzuziehen, konnte sich nicht halten und stürzte.
Zuerst herrschte betretenes Schweigen: Dergleichen passierte dem Herzog einfach nicht. Seine Gefolgschaft wusste nicht, ob sie so tun sollte, als hätten sie nichts gesehen und nichts gehört, vor allem den Aufschrei nicht, als er auf den vereisten Boden prallte. Doch der Herzog schwang sich nicht wieder in den Sattel. Stattdessen lag er auf dem Boden. Sein rechtes Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, und der Schnee unter ihm färbte sich langsam rot. Das Bein war so gebrochen, dass Knochen spitz aus der Haut hervorstachen.
* * *
Die Feiern, die am Weihnachtstag geplant gewesen waren, wurden abgesagt. Walther war damit beschäftigt gewesen, sich ein Lied auszudenken, um Reinmar zu necken, nichts Ernstes, nur etwas, das dessen ewigem Klageton etwas Abwechslung entgegensetzen würde, als er hörte, dass man den Herzog mit gebrochenem Bein in die Residenz zurückgebracht hatte.
Kein Festtagsschmaus bedeutete jedoch nicht, dass es in dieser Nacht in der Residenz still war. Um Mitternacht, als die meisten zu schlafen begonnen hatten, bestellte der Herzog Spielleute in sein Gemach, und sowohl Walther als auch Reinmar. Zuerst dachte Walther, sie seien hier, um den Herzog von seinen Schmerzen abzulenken. Dann befahl ihnen Friedrich, der mit neunzehn Jahren ältere der Herzogssöhne, so laut wie möglich zu spielen und zu singen, ohne den Wunsch nach einem bestimmten Lied zu äußern oder zu bedenken, dass zwei nicht miteinander abgestimmte Sänger nicht wohlklingender als streunende Katzen sein konnten. Man brauchte kein Ausbund an Klugheit zu sein, um zu begreifen, dass es nur darauf ankam, das
Weitere Kostenlose Bücher