Das Spiel der Nachtigall
Täubchen«, murmelte Otto, als sie auf den Kaplan zuschritten. Er breitete eine Handfläche auf, damit der Kaplan den Ring segnen konnte. Judith sah im Dämmerlicht, in dem die Mägde Fackeln hielten, dass es sich um einen Bronzering mit einer Gemme handelte, in die ein Kreuz geschnitten war.
»Ich weiß ihn im Sinn des Gebers zu würdigen«, entgegnete sie ausdruckslos und fragte sich, warum niemand bei diesem bösen Scherz auf das Offensichtliche kam – dass sie nicht getauft war, unabdingbar für die christliche Trauung – und was sie tun würde, wenn es jemand bemerkte. Doch diese Entscheidung wurde ihr abgenommen. Der Kaplan segnete den Ring, sprach dann die Worte einer Zeremonie, die ihr unvertraut war; danach steckte ihn Gilles auf jeden Finger ihrer rechten Hand und sprach währenddessen ein Gelöbnis, sie mit diesem Ring zu ehelichen, mit ihr all sein weltliches Hab und Gut zu teilen und ihr die Treue zu halten. Unter anderen Umständen hätte sie die Worte schön gefunden, nur nicht jetzt und nicht hier. Sie verabscheute Otto von Minute zu Minute mehr.
In dem großen Saal, in welchen Otto sie und Gilles als Nächstes zog, war bereits ein Fest im vollen Gang, doch einer der Musikanten blies in ein Horn, als er Otto sah. Die Tafelnden schauten alle auf.
»Freunde, hier sind meine Ehrengäste. Meister Gilles, der weiß, wie man Menschen ins Grab befördert, und Magistra Jutta, die weiß, wie man alles am menschlichen Körper belebt! Feiern wir sie, die Königin und den König des Festes!« Ein Diener brachte ihm zwei aus Stroh gewundene Kränze. »Für den Bräutigam und die Braut!«
Ein Teil der Gäste verstand möglicherweise genauso wenig wie Judith, warum das komisch sein sollte, aber sie hatten dem Wein bereits zugesprochen; Otto war überschwenglich und lachte, also lachten sie ebenfalls. Judith nahm an der Tafel Platz. Man reichte ihr und Gilles Schalen mit heißem Wasser, in das Gewürze gegeben worden waren, dazu Handtücher, um ihre Finger zu reinigen. Rosmarin, dachte Judith grimmig, als sie den Geruch erkannte, ist gut für das Erinnerungsvermögen.
»Das alles war nie«, begann Gilles, aber sie legte ihm den Finger auf die Lippen.
»Ich weiß. Wir werden darüber reden, aber nicht vor … vor unserem Gastgeber.«
Die Gäste waren gerade dabei gewesen, Wachteln zu essen. Otto ließ auch sich und seinem Gefolge von diesem Gang bringen. Zu ihrer Überraschung stellte Judith fest, dass sich in ihr Hunger meldete. Dann sei es so, dachte sie grimmig, und nahm sich von dem Vogel, während die Spielleute leiser wurden, ein Troubadour vor eine Empore trat und nach einer kurzen Ankündigung mit seinem Gesang begann. Gilles flüsterte ihr zu, dass der Mann ein König Richard gewidmetes Lied vortrug, in der Sprache Aquitaniens, der langue d’oc, von der sie dank ihrer Lateinkenntnisse Bruchteile verstand.
»Das ist Bertran de Born«, sagte Otto zu ihrer Linken, »einer unserer größten Dichter. Ich wette, Ihr hättet nie gedacht, dass Ihr bei Eurer Hochzeit einen solchen Sänger hören werdet, wie? Bertran ist auch ein Kreuzfahrer, und wenn es etwas gibt, das er so gut beherrscht wie das Verseschmieden, dann ist es die Kunst, Ungläubige zu töten.«
Etwas in ihr zerriss; ein Faden aus Geduld und Furcht vielleicht. »Ich habe schon bessere Sänger gehört«, sagte sie kühl.
»Ach wirklich?«, fragte Otto. Sein Gesicht wirkte beleidigt, und seine Augen verengten sich. »Wen?«
»Walther von der Vogelweide«, entgegnete sie und trank von dem heißen, gewürzten Wein, den man ihr entgegenhielt. Sie sagte es, weil es der erste Name war, der ihr einfiel. Sie sagte es, weil sie bei dem Anblick der tafelnden Gäste an Wien hatte denken müssen. Und sie sagte es, um Otto wenigstens einen kleinen Schlag zu versetzen. Sie sagte es nicht, weil ihr das Lied, das Walther ihr und Irene auf der Reise nach Frankfurt vorgetragen hatte, noch immer im Gedächtnis war und sich störrisch weigerte, es auch nur mit einer Silbe zu verlassen, oder weil sie sich schon seit Tagen fragte, was geschehen wäre, wenn sie in Nürnberg bei Irene geblieben wäre, statt mit Stefan nach Köln zu ziehen.
»Kein deutscher Sänger«, sagte Otto, »könnte jemals die Klasse der Troubadoure erreichen. Sie haben den Minnesang erfunden! Einer meiner Vorfahren, der Herzog in Aquitanien war, hat die ersten großen Lieder gedichtet. Seither hatte man dort über hundert Jahre lang Zeit, sich in der Kunst zu vervollkommnen. Wollt Ihr mir
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