Das Spiel der Nachtigall
Grund tat es das für sie, und so entschloss sie sich für einen Kompromiss. Sie sank in die Knie, schlug die Augen nieder und murmelte auf Latein: »Es ist mir eine Ehre, höchstedler Alexios.«
Er beachtete sie nicht, sondern stellte Irene eine Frage auf Griechisch, die sie beantwortete. Dann schaute er zu Judith und fragte auf Latein, ob sie wirklich zu den Frauen aus Salerno gehöre.
»Wäre sie sonst meine Leibärztin?«, warf Irene ungeduldig ein. »Bruder, du kannst ihr vertrauen.«
Es fiel Judith auf, dass die Augen des byzantinischen Fürsten zwar in Irenes Richtung schauten, aber nicht direkt auf ihr Gesicht, sondern über ihre Schulter hinweg. Dass er nicht zu Judith blickte, mochte also einen anderen Grund haben als Hochmut. Mit einem Mal verstand sie, warum Irene weder Damen noch Gesinde um sich behalten hatte.
»Kann es sein, dass Ihr Schwierigkeiten mit Euren Augen habt, höchst edler Alexios?«, fragte sie behutsam.
»Ich bin nicht geblendet worden«, sagte er rasch. »Das war mein Vater. Nicht ich. Niemals.«
Ein blinder Herrscher, erinnerte sich Judith, konnte nicht regieren. Deswegen war Irenes Vater geblendet worden, deswegen hatte Kaiser Heinrich die letzten normannischen Prinzen nicht nur kastrieren, sondern ebenfalls blenden lassen. Es war eigentlich verwunderlich, dass Alexios jenes Schicksal erspart geblieben war.
»Wenn man sehr lange Zeit im Dunkeln verbringt«, sagte Judith leise, »und dann plötzlich ans Tageslicht kommt, dann können die Augen Schaden nehmen, weil sie das Licht nicht mehr gewohnt sind.«
»Die Magistra wird niemandem davon erzählen, das gebietet ihr Eid«, warf Irene ein. Alexios senkte das Haupt. Dann bedeutete er Judith, sie möge näher treten, um ihn zu untersuchen.
Da er der Sohn eines entthronten Vaters war, gab es keinen Grund zu erwarten, dass er je wieder auf einem Thron sitzen würde. Keinen, außer Irene, die in den letzten Jahren alles Mögliche versucht hatte, um aus der Ferne Druck auszuüben und ihren Onkel dazu zu bewegen, ihren Vater und ihren Bruder freizulassen. Keinen, außer dem, was man sich vor langer Zeit über die Träume des Staufers Heinrich erzählt hatte, eine Verwandtschaft mit der byzantinischen Kaisertochter zu nutzen, um auch Kaiser des Ostreichs zu werden.
Doch Philipp war nicht unumstrittener deutscher König, geschweige denn Kaiser des Westens. Er hatte mehr als genug damit zu tun, Otto in Schach zu halten, denn immer noch war keiner von beiden in der Lage, sich dauerhaft als der Stärkere zu beweisen. Da war es unmöglich, daran zu denken, Byzanz zu erobern, ob nun für seinen Schwager oder sich selbst.
Judith hob vorsichtig das Kinn des Kaisersohns und drehte seinen Kopf hin und her. Dann ließ sie ihn los, hielt einen Finger in die Höhe und bewegte ihn langsam. Seine Augen folgten ihr bei unmittelbarer Nähe, doch als sie die Geste in einigen Schritten Entfernung wiederholte, konnte sie sehen, dass sein Blick weiter geradeaus gerichtet blieb.
Zum ersten Mal seit Jahren dachte sie an Meir, ihren Mitstudenten und kurzfristigen Freier, der sich auf Augen verstand wie kein Zweiter in Salerno und vermutlich sofort gewusst hätte, ob es sich um starke Kurzsichtigkeit handelte oder um einen äußerlich zugefügten Schaden.
»Habt Ihr vor Eurer Einkerkerung gut sehen können, Euer Gnaden?«
»Ja«, sagte er rasch, doch Irene machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Lüg sie nicht an, sonst kann sie dir nicht helfen. Mein Bruder war nie gut bei der Falkenjagd, Magistra, weil er den Vögeln nicht lange mit den Augen folgen konnte. Doch früher hätte er ohne weiteres Euer Gesicht und Eure Kleidung beschreiben können, so, wie Ihr vorhin im Rahmen der Tür standet, und nun ist ihm selbst das nicht mehr möglich.«
»Nero soll einen Smaragd gehabt haben, durch den er besser sah. Ich habe auch von feingeschliffenen Kristallen gehört, die diese Wirkung haben. Aber ich glaube nicht, dass sie Eure Sicht auf Dauer besser machen können, Euer Gnaden«, sagte sie, denn eine der ersten Regeln, die sie gelernt hatte, war, dass man nicht über den Kopf eines Patienten hinweg über ihn sprach, sofern er nicht taub oder ein Kleinkind war, denn sonst erwachte in ihm schnell Groll wider den Arzt, und er versperrte sich ihr gegenüber. Man musste stets versuchen, ihn mit einzubeziehen. »Nur während der Zeit, die Ihr durch einen solchen Kristall blickt, wenn wir einen richtig geschliffenen für Euch finden. Zudem … nehmt Ihr die Farben
Weitere Kostenlose Bücher