Das Spiel der Nachtigall
neckte, vor einem Schicksal geflohen zu sein, das anderswo erfolgreich auf ihn gewartet hatte.
Sie schaute Maria an. So schnell war die Zeit vergangen. Zu schnell. Sie betrauerte immer noch jede Stunde, die sie nicht mit Walther verbrachte. Das Gefühl, dass da jemand war für sie und dass sie für jemanden da sein konnte, war mehr als selbst die Befriedigung, helfen zu können, in ihrer schönsten Zeit in Salerno. Alles, was sie sich jemals erträumt hatte, war mit ihm in Erfüllung gegangen, und noch einiges mehr. Sie konnten reden und schweigen miteinander; dieses Schweigen nannte er Selbstgespräche mit unseren Seelen. Danach stellten sie häufig fest, dass sie beim gleichen Thema gewesen waren, was sonst nur alten Leuten passieren sollte, nach vielen Jahren einer harmonischen Ehe. Umgekehrt brachten sie es fertig, am Abend, ohne zu sprechen, ohne sich abzustimmen, übereinander herzufallen, als müssten sie Jahre nachholen, was ja auch nicht abwegig war, um später gleichzeitig den Mund zu öffnen, um darüber zu reden, was ihnen gerade auf dem Herzen lag. Sie hatte ihm sogar von ihrem Schwager erzählen können; er hatte den Kopf geschüttelt über dessen Selbstsucht, statt ihr Vorwürfe zu machen. Er hatte ihr auch von Mathilde berichtet, die seine ersten Schritte in die körperliche Liebe gelenkt hatte, und sie hatte ohne Eifersucht zuhören können. Als er davon sprach, wie schön er damals immer das Licht einer brennenden Flamme beim Liebesspiel empfand, hatte sie am Abend nie mehr selbst das Licht ausgelöscht. Wie oft schon hatte sie an das gedacht, was ihr in Braunschweig gesagt worden war: Was aus Liebe gegeben wurde, wurde gern und gut gegeben. Sie hatte Walther von ihrer Freundin Maria erzählen können, und es gab von ihm keine Scherze über solche Freundschaften, wie sie es eigentlich von ihm erwartet hatte. Er hatte im Gegenteil sogar gesagt, dass er bisher der Überzeugung gewesen sei, dass Menschen zu Bettlern werden, die sich auf ihre Freunde verlassen. Glücklich, wer anderes erleben durfte. Ihr Leben mit ihm war einfach schön!
»Aber gibt es noch Kampfer?«, fragte Lucia. »Der Boden ist schon gefroren.«
Judith kam nicht dazu, zu antworten, weil eine Magd sie unterbrach und bat, zur Königin zu kommen. Wie sich herausstellte, war Irene nicht alleine, obwohl die Königin ihre Damen fortgesandt hatte. Bei ihr befand sich ein junger schwarzhaariger Mann, der ihr ähnelte und sichtlich schlecht in die höfische Kleidung passte, die man ihm zur Verfügung gestellt haben musste. Er zuckte zusammen, als Judith den Raum betrat, statt es für selbstverständlich zu nehmen, wie Edelleute es gewöhnlich taten. Obwohl er wie die meisten Adeligen Armreife und Ringe trug, waren seine Arme dünn, während sein Bauch schon eine leichte Wölbung zeigte. Er konnte in den letzten Jahren nicht viel Bewegung gehabt haben, und dafür gab es bei seinem offenkundig hohen Stand eigentlich nur eine Erklärung.
»Mein Bruder Alexios«, sagte Irene auf Lateinisch, obwohl sie mittlerweile mit Judith genau wie allen anderen Mitgliedern ihres Hofstaates Deutsch sprach, »hat den Weg in die Freiheit und zu mir gefunden.« Judith erinnerte sich an ihre ersten Begegnungen mit Irene; bei den Byzantinern war es üblich, sich zu Boden zu werfen, wenn man ein Mitglied des Kaiserhauses zum ersten Mal vor sich sah.
Irenes Bruder war, wie ihr Vater, jahrelang von ihrem Onkel gefangen gehalten worden, insofern hatte Judith Mitleid mit ihm und konnte verstehen, dass einiges nötig war, um seinem Stolz wieder Nahrung zu geben. Aber es war ihr unmöglich, die Stimme ihres Vaters zu vergessen, als er sagte, dass man nur vor dem Allerhöchsten selbst im Staub lag und nicht vor einem heidnischen Idol, ob lebend oder aus Stein. Sie musste so viel von ihrem Judentum unterdrücken, um in dieser christlichen Welt zu leben, doch es gab Grenzen. Selbst, wenn sie Möglichkeiten fand, den Sabbat zu begehen, so verstieß sie oft genug gegen die Essensvorschriften, und obwohl sie niemals eine Hostie zu sich genommen hatte, war es ihr unmöglich gewesen, sich immer der Messe zu entziehen. Als Philipp seine zweite Tochter Kunigunde nannte, nach der Kaiserin, deren Gebeine er im Bamberger Dom selbst in eine neue, prunkvolle Grabstätte umgebettet hatte, da hatte Judith in der Taufgemeinde gestanden und das Credo aller Anwesenden mit angehört. Sich einmal in den Staub zu werfen, hätte im Vergleich nicht viel bedeuten sollen, aber aus irgendeinem
Weitere Kostenlose Bücher