Das Spiel der Nachtigall
nur auf Griechisch. So auch an jenem Nachmittag, als Wolfger davon berichtete, wie man seiner Erfahrung nach die Kreuzritter verschiedener Länder zusammenhalten könne, was oft genug schwierig war.
»Verschiedene Parteien zusammenzuhalten, ist die Herausforderung jedes Kaisers«, erklärte Alexios huldvoll, »und mein erhabener Vater lehrte mich diese Kunst von Kindesbeinen an.«
»Mit Verlaub, Euer Gnaden, und allem Respekt vor Eurem edlen Vater, aber da er sich derzeit in der Gewalt Eures Onkels befindet, kann er es selbst nicht zu einem Meister in dieser Kunst gebracht haben.«
»Bedenkt, Herr Bischof, dass Ihr mit dem künftigen Kaiser des oströmischen Reiches sprecht!« Alexios’ Stolz ähnelte nichts so sehr wie Irenes Gebaren in Salerno, als sie auch völlig machtlos gewesen war. Ein paar Momente später färbte sich sein Gesicht wieder grünlich, und er übergab sich, ehe der Wagen angehalten werden konnte. Danach empfahl Judith kurzerhand, den Rest des Tages zu reiten.
Der Kaisersohn hatte es bisher vermieden, mit ihr zu sprechen, sei es, weil er sie nicht kannte, sei es, weil sie eine Frau war, doch als sie nun neben ihm ritt, während jedermann bis auf den Bischof sonst Abstand zu ihm hielt, fragte er sie leise, ob man ihm in Salerno auch gewiss helfen könne. »Mittlerweile sehe ich nicht nur alles verschwommen, sondern manchmal auch einen hellen Glanz wie einen Heiligenschein um einzelne Dinge. Vielleicht ist es Gottes Wille, und was ich erblicke, sind Zeichen seiner Heiligkeit?«
»Was Gottes Wille ist, weiß ich nicht besser als jeder andere Sterbliche, Euer Gnaden, aber das, was Ihr seht, ist kein Heiligenschein, sondern ein weiteres Zeichen des grauen Stars.«
»Aber …«
»Es war Gottes Wille, dass Ihr Eurer Gefangenschaft entkamt. Es scheint Gottes Wille zu sein, dass Ihr den Thron Eures Vaters zurückerlangt. Da ist es gewiss auch Gottes Wille, dass Ihr die Augen nützt, die er uns Menschen geschenkt hat, um so deutlich wie möglich zu sehen.«
»Was genau«, fragte er zögernd, »werden sie mit mir in Salerno tun?«
Judith hätte lieber nicht davon gesprochen, weil sie noch niemandem begegnet war, dem die Beschreibung dieses Eingriffs keine Angst einjagte. Wenn Alexios den Rest der Reise Zeit hatte, sich das auszumalen, was sie ihm schilderte, würde er mehr und mehr Angst entwickeln; das konnte ihm nur schaden. Andererseits würde ihr eine Weigerung nicht helfen, Alexios’ Vertrauen zu gewinnen, und eine Lüge würde später jedes Vertrauen, das er entwickelte, zerstören.
»Man nennt es den Starstich, Euer Gnaden. Ihr werdet einen Trunk bekommen, der Euch ruhigstellt und weitgehend schmerzunempfindlich macht. Ein Helfer des Arztes wird Euren Kopf nehmen, fest gegen seine Brust drücken und dort halten. Der Arzt sitzt Euch gegenüber und sticht mit einer Nadel seitlich in das Weiße Eures Augapfels, bis die Nadelspitze hinter der Pupille sichtbar wird.«
Alexios’ Gesicht zuckte. »Und davon soll ich nicht blind werden?«
»Wenn es richtig getan wird, Euer Gnaden, wird damit Eure Sehkraft gerettet. Die Linse wird mit der Nadel erfasst und hinabgedrückt. Nach dem Eingriff müsst Ihr einen Verband über beide Augen tragen, auch das gesunde, um das gestochene Auge ruhig zu halten, während es heilt. Wird der Verband dann entfernt, könnt Ihr wieder sehen. Ihr solltet allerdings wirklich einen Kristall schleifen lassen, wie ihn die Kaiser der Alten gehabt haben sollen, denn es mag sein, dass Ihr zu scharf seht, und der Kristall wird das lindern.«
»Und wenn es nicht richtig getan wird? Dann bin ich so blind wie mein Vater und kann auf der Straße betteln!«
Judith dachte an die Armen, die sie diesseits und jenseits der Alpen erblickt hatte, Menschen, die durch die Verwüstung ihrer Stadt, den Überfall des einen oder anderen Heeres all ihr Hab und Gut verloren hatten, und dazu oft Gliedmaßen. Sie dachte an die Blinden, die selbst im Frieden in Städten wie Köln oder Wien in den Straßen bettelten, nur in Lumpen gekleidet, an die Menschen, die ihr Augenlicht verloren, weil sie nur im Schein einer billigen Talgfunzel Prunkmäntel für Menschen wie Alexios besticken mussten. Ja, er hatte schwere Zeiten hinter sich, daran bestand kein Zweifel. Aber er würde nie darben. Seine Schwester war die Königin der Deutschen. Wenn Irenes Wunsch sich erfüllte, dann würden sogar eine beträchtliche Anzahl Menschen sterben oder verkrüppelt werden, um Alexios auf den Thron zu
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