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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Bamberg geschehen ist, Gilles«, sagte Paul behutsam.
    »Nein«, gab Gilles zurück. Sein Gesicht fing an zu zittern, wie das eines Kleinkindes, kurz, ehe es zu schreien beginnt.
    »Er war wohl auf der Suche nach deinem Freund, dem Sänger«, begann Paul ungerührt. »Stattdessen lief er vor der Stadt Botho von Ravensburg und seinen Männern in die Arme. Bevor du fragst, ich hatte keine Ahnung von alledem, als ich damals in Franken war. Wir haben Gilles erst dieses Jahr entdeckt und befreit, Vater und ich. Botho war wohl in schlechter Stimmung wegen irgendetwas, das auf dem Weg zwischen ihm und Walther vorgefallen sein muss, und schlug ihn mit seinen Leuten nieder. Als Gilles wieder aufwachte, an den Händen gefesselt wie ein Stück Vieh, schleifte Botho ihn angehängt an sein Pferd über Stock und Stein. Ich weiß nicht, was sie sonst noch alles mit ihm gemacht haben, weil er nicht darüber reden will, aber am Schluss waren Arme und Beine mehrfach gebrochen, und sie dachten wohl auch, er sei tot, als sie ihn zurückließen.« Paul bekreuzigte sich. »Dann haben ihn Reisende gefunden und ins nächste Dorf zu einem mitleidigen Bauern gebracht. Aber es hat zu lange gedauert, bis der einen Heiler für ihn fand. Die Beine waren nicht richtig zusammengewachsen; am Ende haben sie ihm diese einfach abgesägt. Danach wurde er Bettler. Schließlich nahm ihn eine Gauklertruppe mit, weil sie noch einen Krüppel brauchten. Das war sein Glück, denn sonst wäre er verhungert.«
    »Aber … aber ich war in Bamberg. Ich war dort! Ich hätte …« Judiths Verstand, dieser sonst an so vielen Rätseln und Erinnerungen geschärfte Verstand, weigerte sich, sie an jenen Tag zurückzuführen. Zu einer ganz bestimmten Erinnerung. Nein, dachte Judith. Das kann einfach nicht sein. Ihre Hände tasteten Gilles’ Schultern ab, die trotz der immer noch kräftigen Arme einfach zu dünn waren.
    »Du hast nicht nach mir gesucht«, murmelte er traurig.
    »Walther hat nach dir gesucht!«, sagte sie tonlos. »Und er hat dich gefunden, das … das sagte er mir. Du wolltest ein neues Leben anfangen, ohne mich, das …« Er wünscht dir ein langes, glückliches Leben, sagte Walthers Stimme in ihrem Gedächtnis, und sie starrte auf den geschundenen Menschen vor sich, der den Kopf schüttelte.
    »Da war niemand«, sagte er. »Niemals.«
    »Ich weiß nicht, was Herr Walther dir erzählt hat, Base«, warf Paul ein. »Aber Gilles hat dich nicht verlassen, jedenfalls nicht aus freiem Willen. Er hat versprochen, Walther entgegenzuziehen. Aber er hat ihn nie wiedergesehen.«
    * * *
    Es war dunkel, als Walther in die Kammer zurückkehrte, die er mit Judith teilte. Nach dem Gespräch mit Stefan hatte er nicht den Fehler machen wollen, ihr sofort gegenüberzutreten; das Verlangen, sie anzuschreien und eine Erklärung dafür zu fordern, dass sie nie genügend Achtung vor seiner Liebe gehabt hatte, um ihm zu gestehen, dass sie überhaupt nicht verheiratet war, fraß an ihm. Außerdem klammerte er sich an die vage Hoffnung, dass Stefan ihn angelogen hatte; vielleicht reichte es schon, dass Judith ihren alten Glauben nicht mehr ausgeübt hatte. Ja, genau so musste es sein. Doch als er Philipps Kaplan auftrieb, bestätigte ihm dieser jedes Wort Stefans.
    Ein Teil von Walther wollte sich in einer Höhle verkriechen und nicht mehr vom Fleck rühren, doch der Rest loderte vor Zorn. Er versuchte, selbst eine Erklärung zu finden, die nicht darauf hinauslief, dass Judith sich durch ihr Studium in Salerno zu gut für ihn hielt, aber er fand sie nicht. Mit jedem Schritt in Richtung ihres gemeinsamen Zimmers brannte das Gefühl stärker, zurückgewiesen worden zu sein, nur geheuchelte Liebe bekommen zu haben. Es half nicht im Geringsten, dass sich Judith schließlich vor einigen Tagen eines Besseren besonnen und nach ihrem Gespräch über den Versuch, ein Lehen zu gewinnen, zugestimmt hatte, ihn zu heiraten. Was war alles notwendig gewesen, um sie endlich dazu zu bewegen! Hatte sie es am Ende nur aus Mitleid getan, weil sie wusste, dass er wegen seiner Wochen im Spinnhaus manchmal schlecht schlief und dass ihn allmählich die Befürchtung plagte, irgendwann für sein Wanderleben zu alt zu sein?
    Aufgebracht, gedemütigt und mit bitteren Gedanken betrat er seine Kammer. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass Judith nicht nur vollständig angekleidet vor ihm stand, sondern auch, dass neben ihrer Arznei- und Instrumententasche vollgepackte Satteltaschen lagen. Aus einer von ihnen

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