Das Spiel der Nachtigall
und um Hilfe geschrien, und niemand hat mir geholfen«, gab Lucia zurück. »Da hört das Gernhaben auf. Die Magistra sieht das ganz genauso. Ins gemachte Nest hat er sich bei ihr setzen wollen, dein Walther, so ist es doch! Deswegen hat er den armen Gilles den Hunden zum Fraß vorgeworfen!«
Markwart schluckte. Er musste sofort zur Magistra gehen und ihr erzählen, dass es sein Einfall gewesen war, die Suche nach Gilles abzubrechen. Aber er sah die blitzenden Augen seiner Gemahlin und hatte plötzlich Angst. Angst, Lucia zu verlieren, und seine Kinder. Angst, seine Stellung zu verlieren; Stellvertreter des Stallmeisters des Königs, mehr konnte er kaum erhoffen. Wenn die Magistra so zornig auf Walther war, dass sie seine Verbannung vom Hof erwirkte, dann war es nicht auszudenken, was sie mit Markwart tun würde.
Er fühlte sich elend und feige. Aber er schwieg.
* * *
Es war die schärfste ihrer Damaszenerklingen, das Messer, das sie persönlich zu den Schleifsteinen brachte, weil sie es niemandem anvertrauen wollte, das, was sie für die schwierigsten Eingriffe benutzte. Es glitt durch ihr Haar wie durch Butter; Strähne um Strähne fiel.
»Warum?«, fragte Gilles, der sie von seinem Lager beobachtete, das sie ihm bereitet hatte. Paul hatte angeboten, ihn wieder nach Köln mitzunehmen, doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt, da sie ihrer Stimme noch nicht traute. Gilles selbst sprach ebenfalls nicht viel; manchmal kam er ihr vor wie ein Kind, dann wieder wie der Mann, den sie einmal gekannt hatte, wenn auch nur kurz, mit einem Blick oder einem Satz, wie ein einzelner Sonnenstrahl, der durch Wolken brach. Aber jetzt beobachtete er sie, blickte auf das rote Haar, das den Boden bedeckte, und wiederholte verwundert und ein wenig verstört: »Warum?«
Sie konnte ihm nicht sagen, dass es daran lag, dass Walther ihr Haar so geliebt hatte, dass sie immer noch seine Finger spürte, die sich durch ihre Locken wühlten.
»Es dauert immer seine Zeit, bis lange Haare trocknen, vor allem jetzt, wo die Tage wieder kürzer werden und die Sonne weniger scheint«, sagte Judith mit belegter Stimme, »und wir werden bald nach Hagenau aufbrechen. Es reist sich einfach besser mit kurzem Haar. Unter meiner Haube fällt ohnehin niemandem ein Unterschied auf.« Ihre Augen brannten, doch sie hatte bereits alle Tränen geweint, derer sie fähig war, alleine, wo sie niemand beobachten konnte. Ganz gewiss nicht Gilles. Er war derjenige, der gelitten hatte. All die Jahre, und jedes Mal, wenn sie sich vorzustellen versuchte, wie sein Leben ausgesehen hatte, wenn sie sich bewusst war, dass alles anders hätte kommen können, wenn sie ihn nur selbst gesucht hätte, statt Walther darum zu bitten, wollte sie vor Scham im Boden versinken.
Bamberg war nicht das einzige Mal, wo sie ihn im Stich gelassen hatte. Sie hätte Botho geradeheraus fragen können, was er meinte mit seiner Anspielung, sie schulde ihm die Freiheit, mit Walther und Alexios ins Bett zu gehen. Das hätte Gilles zwar nicht mehr seine Beine wiedergegeben, doch wenn sie die Wahrheit erfahren und sofort begonnen hätte, ihn zu suchen, dann hätte sie ihm Jahre der Knechtschaft ersparen können.
»Du weißt es aber, allein das ist wichtig«, sagte Gilles. »Das schöne Haar.« Dann drehte er sich zur Seite, schloss die Augen und atmete bald tief und gleichmäßig.
Judith fühlte sich wie eine der Holzfiguren, die ein Messer gehöhlt hatte. Ihr Raum in Hagenau hatte eine Feuerstelle, aber der in Speyer nicht, und so konnte sie die stummen Zeugen ihres Versagens, ihrer Torheit, ihrer Schuld nicht verbrennen. Judith legte das Messer nieder und begann, das Haar vom Boden aufzusammeln. Wenn sie es verschluckte, dachte sie abwesend, und wieder herauswürgte, dann hätte sie einen Bezoar, der vor Vergiftungen schützte. Einen verrückten Moment lang zog sie es tatsächlich in Erwägung. Dann stopfte sie die roten Strähnen in einen Beutel, der eigentlich für Kräuter gedacht war. Morgen, wenn Philipps Haushalt Speyer verließ, würde sie ihn in den Rhein werfen, und mit ihm, so Gott wollte, die Judith, die Walther von der Vogelweide geliebt hatte.
Kapitel 37
B ischof Bruno von Köln hielt auf dem Schiff Hof, das ihn in sein Bistum zurückbrachte, und sprach freudig darüber, wie er ein paar Monate seiner Gefangenschaft in Trifels verbracht hatte, der gleichen Burg, wo einst König Richard festgehalten worden war. Doch für ihn seien, anders als für Richard, keine Unsummen
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