Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
lugten ein paar Pergamentbögen, und dann bemerkte Walther auch seinen Pelzmantel. Sie hatte nicht ihre, sondern seine Sachen gepackt.
    »Erzähle mir noch einmal, wie du Gilles in Bamberg gefunden hast«, sagte sie. Jedes ihrer Worte war schneidend und kalt wie tausend Eiszapfen. »Wie er zu dir gesagt hat, dass er mich verlassen wollte, um ein neues Leben zu beginnen.«
    Hätte sie ihn das am Tag zuvor gefragt, hätte er sein Schuldbewusstsein ob der alten Lüge kaum verbergen können, und er hätte versucht, ihr zu erklären, wie ihm diese kleine Verbiegung der Wahrheit als die wahrscheinlichste Erklärung für Gilles’ Verschwinden erschienen war. Dass seine Worte die beste Möglichkeit waren, ihr einen schmerzlosen Abschied zu schenken statt endloser Ungewissheit. Aber heute, hier und jetzt, mit Stefans Worten in den Ohren, gab er nur zurück: »Was kümmert es dich, ob ich ihn gefunden habe oder nicht? Du warst schließlich nie rechtmäßig verheiratet mit ihm.«
    Walther hatte Judith schon oft zornig erlebt; hin und wieder war dieser Zorn auch gegen ihn gerichtet gewesen. Er hatte sie hitzig erlebt, er hatte sie kalt erlebt. Walther war sicher, jede Art zu kennen, mit der sie Ärger oder Wut ausdrückte. Aber was er nun in ihrem weißen Gesicht las, war völlig neu. Es war, als hätte jemand die lebende, liebende Frau, mit der er die letzten Jahre gelebt hatte, gegen eine Furie ausgetauscht, die aus nichts als Hass bestand. Enttäuschung und Verachtung lagen in ihrem Blick, aber vor allem tiefer, bodenloser Hass. Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, zu leugnen, dass ihre Ehe mit Gilles ungültig war.
    »Ich wünschte, ich hätte dich niemals aus dem Spinnhaus herausgeholt«, sagte Judith mit einer Deutlichkeit und festen Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie jedes Wort so meinte.
    Es war, als drehte sich alle Gewissheit um, auf die Walther in den letzten zehn Jahren sein Leben gebaut hatte, und würde zu einem Mahlstrom, der alles verschlang. Er wollte ihr nicht den Triumph gönnen, sie anzuflehen, seine Erklärung anzuhören. Gerade jetzt war er sich nicht sicher, ob er noch eine Minute in ihrer Gegenwart aushalten würde, ohne sich so zu verhalten, wie es Menschen taten, denen er nicht nacheifern wollte.
    »Dann gibt es wohl nichts weiter zwischen uns zu sagen.«
    »Nein, da gibt es nichts. Du wirst sicher bald einen anderen Gönner finden – aber komm nie wieder an Philipps Hof. Ich will dich nämlich nie mehr wiedersehen.«
    Das alles wurde von Herzschlag zu Herzschlag mehr zu einem bösen Traum, in dem keine Regeln mehr galten und aus dem es kein Erwachen gab. Wenigstens ließ ihn seine Fähigkeit, auf alles eine scharfe Antwort zu geben, nicht im Stich.
    »Du bist hier weder die Königin noch die Konkubine des Königs, Judith. Wenn ich mich nicht irre, war es Otto, nicht Philipp, der dich im Bett haben wollte. Oder hat sich da etwas verändert?«
    »Wenn du es darauf ankommen lassen willst, dass Irene dich vor allen Leuten vom Hof verbannt, steht dir das frei«, sagte sie, ohne zu zögern. »Philipp wird dich ganz gewiss nicht schützen. Aber dir werden mehr Höfe offenstehen, wenn die Menschen dort glauben, dass du freiwillig gegangen bist.«
    Walther blickte in ihre Augen und wusste, sie würde es tun. Judith würde ihren Einfluss bei der Königin nutzen, um seine Verbannung zu erwirken, seine Zukunft bei den Staufern ein für alle Mal zerstören, genauso intensiv, wie sie für ihn um sein Lehen gekämpft hatte. Inmitten des reißenden Stroms aus Wut, Entsetzen und Hass, ja, Hass, der sich Bahn in ihm brach, gab es noch eine winzige Insel der Vernunft, die ihn daran erinnerte, dass ein solches Verhalten von Judith noch einen anderen Grund haben musste als den, dass er sie damals wegen Gilles angelogen hatte – just an dem Tag, an dem er die Wahrheit über ihre Ehe erfuhr. Sie war ja bereits entschlossen gewesen, ihn zu verlassen, als er den Raum betrat. Irgendetwas musste geschehen sein.
    Aber der Gedanke schaffte es nicht, sich gegen die Flut entsetzlicher Gefühle durchzusetzen. Er hatte schließlich Jahre damit verbracht, sich ihretwegen wie ein dummer Junge aufzuführen: Er war nach Braunschweig gegangen, weil er sie in Gefahr wähnte, und hatte ihren Gemahl gerettet, obwohl er dem Mann nichts schuldete. Er war ihr nach Salerno gefolgt, als sie das wollte, hatte deswegen die schlimmsten Wochen seines Lebens im Spinnhaus durchgemacht. Ihretwegen hatte er Jahre in Italien

Weitere Kostenlose Bücher