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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Atemwolke, die ihren Kopf umgab, und er erinnerte sich unpassenderweise daran, dass sie früher so ihren Mund geöffnet hatte, wenn sie ihre Beine um ihn schlang. Mittlerweile zogen sich, anders als früher, Linien von ihren Mundwinkeln zum Kinn, doch gleichzeitig hatte sie noch immer ihre Grübchen, ein wenig unantastbare Jugend, die ihr bereits früh gealtertes Gesicht weicher aussehen ließen.
    Er machte eine Verbeugung und wollte gehen, doch sie hielt ihn an seinem Arm zurück.
    »Es ist wahr«, sagte sie, »dass ich Euch nicht geliebt habe, Herr Walther, aber Ihr wart über Wochen ein Stück Freude in einem elenden Leben. Dann habt Ihr mir das weggenommen und mir gleichzeitig gezeigt, wie anders Euer Leben war, wie glücklich und erfüllt, doch für mich gab es dergleichen nicht. Sollte ich Euch dafür dankbar sein?«
    Walther schaute sie an und dachte, dass dies das erste ehrliche Gespräch war, das er seit Monaten führte. Gleichzeitig brach es etwas in ihm auf, das er vermauert wissen wollte. Und doch, sagte sich Walther, wäre es nicht auch ein Sieg für Judith, wenn ich ihretwegen für niemanden mehr etwas empfinde, selbst Mitgefühl nicht?
    »Wenn dies Euch Wunden schlug, dann nehmt als Heilung, dass Ihr richtig vermutet«, entgegnete er leise, ehe er es sich versah.
    Sie neigte den Kopf zur Seite. »Es schafft mir keine Heilung. Am Ende bin ich wohl doch nicht bitter genug, um mich an Qualen eines Freundes zu erfreuen.« Durch ihre Hand auf seinem Arm lief ein Zittern, und er sagte: »Es ist kalt.«
    »Ihr könntet mir den Pelzmantel anbieten, den Ihr tragt«, sagte sie mit einem leichten Lächeln.
    »Das könnte ich, wenn ich nicht wüsste, dass Ihr als Markgräfin über eigene Pelzmäntel verfügt. Außerdem war der Vorschlag, der mir auf der Zunge lag, wieder hineinzugehen, was uns beide wärmen würde.«
    »Würde es das?«, fragte sie bedeutungsvoll.
    Walther zögerte. Dann dachte er, warum nicht, und nickte. »Ich denke schon.«
    * * *
    Es hatte sich herausgestellt, dass Gilles ein Talent zum Schnitzen besaß. Früher hatte er nur hin und wieder kleine Arbeiten verrichtet, aber nicht die Zeit für mehr gehabt, doch nun besaß er mehr davon, als ihm lieb war. Als er das erste Mal um ein Stück Holz und ein Messer bat, behielt Judith ihn im Auge. Er verletzte sich kein einziges Mal, sondern fertigte einen Kreisel für Lucias jüngste Kinder an, die er im Garten beim Spielen beobachtet hatte. Das war der Anfang, im Herbst. Bis der Frühling kam, war Gilles so weit, nicht nur Spielzeug für Lucias und Irenes Kinder, sondern auch Becher, Ständer für Bücher und eine kleine Truhe zu fertigen, in der Judith ihre Instrumente unterbringen konnte, wenn sie nicht unterwegs war. Bei der Arbeit schien er sich wohl zu fühlen und summte vor sich hin. Gilles sprach immer noch weniger als früher, doch er führte mittlerweile mit Judith, Lucia, Markwart und deren Kindern Unterhaltungen, die nicht bereits nach zwei, drei Sätzen endeten. Es schien ihm gutzutun, sich nützlich zu fühlen. Einmal jedoch beobachtete Judith, dass er über etwas in Tränen ausbrach: Es war ein Holzstumpf für einen von Philipps Kriegsknechten, dem sie das Unterbein bis zum Knie hatte absägen müssen. Mit dem Kegel aus Holz würde der Mann zwar nicht mehr kämpfen, aber doch immerhin wieder gehen können.
    Sie wollte gerade in die Bibliothek des Doms zu Speyer gehen, um ein Buch über den Verlust von Gliedmaßen zu suchen, als Irene nach ihr schickte. Die Königin ging in ihrer Kemenate auf und ab. Als Judith eintraf, stellte sie als Erstes fest, dass Irene ihre Damen fortgeschickt hatte. Sie waren alleine.
    »Es wird Otto werden«, sagte Irene unvermittelt. »Riccardo von Segni, der Neffe des Papstes, nimmt eines unserer jüngeren Mädchen, aber Otto besteht auf Beatrix.«
    Judith wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein Ausruf der Bestürzung würde Irene nur noch mehr verstören. Sie konnte aber auch nicht so tun, als stimme sie die Aussicht glücklich, die lebhafte und liebenswerte Beatrix, die viel von ihrer Mutter hatte, aber der anders als Irene noch nie im Leben etwas Böses widerfahren war, als Gemahlin Ottos zu sehen.
    »Ihr müsst mir helfen, Magistra«, sagte Irene gepresst.
    »Wie?«
    »Die Menschen ändern sich, das habt Ihr selbst gesagt«, erklärte Irene eindringlich. »Niemand von uns weiß, wie Otto sich verändert haben mag, ob zum Guten oder zum Schlechten. Seine Gesandten verkünden nur, was wir hören sollen.

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