Das Spiel der Nachtigall
und verlassen hatten. Er wachte auf und war so sicher, die Wärme ihres Körpers zu spüren und ihren vertrauten Duft zu riechen, weswegen er sie noch ein wenig mehr hasste, wenn ihn die Wirklichkeit wieder einholte. Aber sobald Walther Bettler auf der Straße sah, ob verkrüppelt oder nicht, sah er Gilles vor sich und wusste, das Gewicht der verlorenen Beine würde am Tag des Jüngsten Gerichts auf die Waagschale seiner Sünden gelegt werden.
Nein, an Hermanns mögliche Pläne zu denken, war da entschieden leichter. Aber kein Fetzen Hofklatsch und keine betrunkenen Dienstmannen brachten ihn weiter, bis er für die junge Marie und ihre Schwester singen sollte. Auch sie war von ihrer zukünftigen Vermählung mit dem jungen Friedrich überzeugt, im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Marguerite, die sie damit neckten, dass Adelaide, Maries Zwilling, bereits verheiratet war.
»Aber mit einem einfachen Grafen«, sagte Marie. »Wir sind Nachfahren Karls des Großen. Nur jemand, der die Kaiserkrone trägt, ist uns ebenbürtig, doch ich werde die Einzige sein, die einen Kaiser heiratet!«
»Das hast du schon einmal geglaubt. Außerdem ist es noch lange nicht abgemacht, dass Friedrich je mehr als König von Sizilien sein wird. Königin Irene kann immer noch Söhne bekommen. Bei denen wird niemand sich fragen, ob sie nicht von einem Schlächter aus Jesi abstammen! Nein, du solltest dich an den Wittelsbacher Otto halten«, spottete die Schwester, »der ist auch einer staufischen Ehe hinterhergehetzt und ist für dumm verkauft worden.«
»Ich hetze nicht! Ich will nur, was mir als Nachfahrin von Kaisern zusteht!«
»Der Vater müsste selbst Kaiser werden«, sagte Marguerite, »das wäre es.«
Walther war genügend in Aufruhr, um die edlen Jungfrauen mit einem Lied über den schönen weißen Körper seiner Angebeteten aus der Fassung zu bringen, ehe er sich empfahl. Mit einem Mal setzte sich für ihn ein Stein zum anderen. Hans von Brabant war gerüchteweise schon einmal als möglicher König im Gespräch gewesen, doch er befand sich damals im Heiligen Land, als das allgemeine Gerangel um Stimmen und Geld losbrach, und war daher nie ernsthaft in Wettbewerb zu Otto und Philipp getreten. Aber er stammte in der Tat von Karl dem Großen ab und hatte daher eine Blutsverbindung zur Königskrone. In zehn Jahren hatten sich weder Philipp noch Otto endgültig durchsetzen können, sondern sich nur aneinander aufgerieben. Was, wenn nun jemand auf den Gedanken kam, den lachenden Dritten zu spielen?
Andererseits: Philipp war im Besitz der wichtigsten Fürstentümer und der Reichskleinodien und mittlerweile mächtig genug, dass ein Friedensschluss mit Otto möglich schien. Walther konnte sich nicht vorstellen, dass Hans von Brabant gewillt war, seine Streitkräfte gegen die eines Staufers ins Feld zu schicken, und an einem Bündnis mit Otto schien ihm auch nicht gelegen zu sein, sonst würden bei Hofe Gerüchte um eine Wiederbelebung des Eheversprechens zwischen Otto und Marie schwirren, statt um eine staufische Ehe.
Wie hatte Hermann noch geschrieben? Raubvögel mit scharfen Schnäbeln sind allzu gierig, und man muss sie von ihrem Platz vertreiben. Walther hatte das als eine Anspielung auf sich selbst zu entschlüsseln versucht, aber nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das staufische Wappentier war der Adler, der König der Raubvögel. Was die Gier betraf, nun, Hermann war sehr daran gelegen gewesen, den Andechs-Meraniern glaubwürdig zu machen, dass Philipp seine Mitgiftversprechungen nicht hielt. Wenn Hans von Brabant schon seit Jahren auf den jungen Friedrich als Gemahl seiner Tochter wartete, als Belohnung für seinen Seitenwechsel damals und dafür, sie nicht mit Otto vermählt zu haben, und diesen Schwiegersohn nicht bekam, dann hatte er wahrhaft Grund, sich hingehalten zu fühlen. Genau wie die Andechs-Meranier, weil sie eine Nichte statt einer Tochter nehmen mussten, und vielleicht auch nicht das Eisenerz im Nordgau bekamen, welches sie unbedingt haben wollten. Wie Hermann selbst, dessen Söhne erst gar nicht als Gatten in Erwägung gezogen worden waren, weder für Nichten noch für Töchter, was Hermann als Zeichen dafür nahm, dass er nichts Einträgliches mehr aus Philipp herausholen konnte.
Aber wenn Philipp als König plötzlich wegfiel, dann, ja dann konnte das Spiel um den Thron von neuem begonnen werden. Ein Hans von Brabant, der anders als Otto niemanden durch ein Jahrzehnt hindurch enttäuscht hatte,
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