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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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bedeutungsvoll ausklingen, dass ihr drei Dinge klarwurden: Er wollte ihr Angst machen. Er wusste genau, wovor sie sich seit Chinon bei ihm fürchtete. Er hatte nicht die Absicht, diese Furcht wahr werden zu lassen. Wenn er das wollte, dann hätte er sich nicht die Mühe dieses Vorspiels gemacht.
    Was Otto danach sagte, kam trotzdem unerwartet.
    »Die Magistra, so erzählte man mir, ist die Dame, der so manche Lieder des Sängers Walther von der Vogelweide gewidmet sind, der – nach Jahren voller Irrtümer – nun unsere Weisen pfeift. Es fällt mir schwer, den Grund zu erkennen, wenn ich sie so ansehe, aber Liebe macht eben blind. Wie auch immer, da sie den Sänger leider nicht mitgebracht hat, habe ich beschlossen, dass sie uns seine Lieder selbst vortragen wird. Das, meine Freunde, ist endlich mal etwas anderes. Mein Onkel Richard und meine Großmutter haben die Troubadoure geliebt, aber keiner von ihnen ist auf solch einen Gedanken gekommen. Lasst die Dame die Lieder vortragen, die sie preisen, damit wir selbst Wirklichkeit und Dichtkunst miteinander vergleichen können!« Er konnte sein Lachen kaum unterdrücken.
    Es war die Demütigung, auf die es Otto ankam. Judith war nicht eitel. Sie wusste, dass sie älter geworden war, obwohl ihr Gewicht immer noch das gleiche war. Falten hatte sie auch noch keine, außer an den Augen. Eines musste sie ihm jedoch lassen: Er hatte Spürsinn dafür, wie man Menschen verletzte; das war gefährlicher als die rohe Grausamkeit eines Botho von Ravensburg. Wahrscheinlich glaubt er, er könne sie mit seiner Anspielung auf ihr Aussehen treffen. Bestimmt hatte er auch schon seine Lacher parat, die einstimmten, wenn er anfing. Nun, da hatte er sich gründlich getäuscht. Ob er aber ahnte, warum es für sie wenig Schlimmeres gab, was er hätte befehlen können? Sie wünschte sich, sie wäre tausend Meilen weit weg von hier. Sie wünschte sich, sie läge unter einem Stein, und auf dem Stein läge Erde. Einen Herzschlag lang war sie versucht, einfach kehrtzumachen und den Saal zu verlassen, ganz gleich, was dann geschehen würde.
    Zum Glück war ihr Verstand stärker. Es mochte sein, dass Otto ihr Wachen hinterherschickte; auf jeden Fall würde sie die allgemeine Aufmerksamkeit am Hals haben und nicht fliehen können, wie sie es für diesen Abend geplant hatte. Nimm dich zusammen. Bring es hinter dich. Es gibt Schlimmeres. Wenn Walther hier wäre, das wäre schlimmer, sagte sie sich immer wieder vor und schaffte es dennoch nicht, daran zu glauben.
    »Ich will nicht hoffen, dass Ihr vorgebt, kein Lied Eures Troubadours zu kennen«, höhnte Otto. »Das wäre gar zu grausam, Magistra, mir gegenüber.«
    Sie nahm ihre Beklemmung und ihren Schmerz über Walthers Verrat, machte eine Kugel aus Pfeffer daraus und schluckte sie hinunter, obwohl ihr Innerstes dadurch lichterloh brannte.
    »Ich kenne seine Lieder. Doch ich bin keine Sängerin, Euer Gnaden. Ich werde Euer Ohr nicht beleidigen, indem ich sie singe. Stattdessen werde ich vortragen.«
    Otto neigte zustimmend den Kopf. Sie stand neben den Spielleuten vor der Empore an einem Ende des Saals. Paul starrte unglücklich vor sich auf den Tisch. Otto hatte sich zurückgelehnt, die Arme ineinander verschränkt, und wartete mit einem genüsslichen Gesichtsausdruck darauf, wie sie sich selbst erniedrigte. Die alte Erkenntnis, die ihr vor Jahren gekommen war, suchte sie erneut heim: Es war für ihn nicht das Zusammenliegen mit einer Frau, das er genoss; es war die Macht, Verlegenheit, Angst, Scham und Schmerz bei ihnen auslösen zu können, ganz gleich, auf welche Weise.
    In diesem Moment wusste sie, dass sie vor Otto keines der Lieder rezitieren würde, das Walther vor versammelter Gesellschaft vorgetragen hatte, mit einem Scherz oder einer Herausforderung in den Augen, während er von den hohen Damen und Herren zu ihr blickte. Auch keins von denen, die er ihr zugeraunt hatte, während sie in seinen Armen lag. Keines der Lieder, an denen sie ihn hatte feilen sehen, keines, bei dem er sie gefragt hatte, welcher Vergleich der bessere sei, keines, bei denen er hinterher eifrig wie ein kleiner Junge wissen wollte, was sie davon hielt. Das waren ihre Erinnerungen, ihre allein. Otto würde sie nicht bekommen, der nicht!
    Walther hatte auch andere Lieder verfasst, und er hatte ihr selbst erzählt, was für ein Gefühl es war, zum ersten Mal zu erkennen, dass man eine Menge lenken und ins Herz treffen konnte, selbst eine Menge an Fürsten. Judith

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