Das Spiel der Nachtigall
sicher, dass du es mit Fassung tragen wirst, wenn die Menschen um dich herum mit anderen Dingen beschäftigt sind, als auch nur einen Gedanken an dich zu verschwenden.«
Seine Stimme war lauter und lauter geworden, und als er endete, saßen die Knappen aufrecht auf ihren Lagern und schauten betreten. Walther hingegen war nicht länger verwirrt, er zeigte auch kein Schuldgefühl; stattdessen lag eine Mischung aus Mitleid und Ärger in seiner Stimme, als er entgegnete: »Aufrichtigkeit ist die verwegenste Form der Tapferkeit, und im Gegensatz zu den meisten hier am Hof stehe ich dafür!«
»Du bist respektlos, völlig respektlos!«
»Herr Reinmar, es ist spät. Ihr solltet Euch zur Ruhe legen.«
»Das sollte ich, aber wie kann ich das, mit dir in diesem Gemach?«, konterte er bitter. »Es ist, als säße der Winter in Person hier, ohne menschliche Wärme. Doch all das Eis wird eines Tages schmelzen, Walther, und zeigen, was dann noch von dir übrig ist. Eine Wasserlache. Eine Pfütze. Ein Nichts. «
»Ihr wisst nicht, was Ihr …«
»Ich weiß genau, was ich sage, und ich weiß genau, was ich will. Geh, Walther, niste dich bei einem anderen Unglücklichen ein, dem du seine Ruhe stehlen kannst. Hier in diesem Zimmer bist du nicht länger willkommen.«
Einmal ausgesprochen, hing das Wort geh zwischen ihnen. Reinmar wartete darauf, dass ihn Reue packte, dass er Walther versicherte, er habe es nicht so gemeint. Schließlich war er ein gutmütiger Mann, das sagte jeder von ihm. Doch gerade jetzt entdeckte er, dass seine Gutmütigkeit Grenzen hatte. Er mochte es bis jetzt selbst nicht gewusst haben, doch er wollte wirklich, dass Walther aus seinem Leben verschwand. Er war nicht eifersüchtig, nicht wirklich; er wurde nur alt und wollte sich nicht Tag für Tag darüber streiten müssen, was echte Kunst war. Man musste sich keine Sorgen um Walther machen, denn Friedrich hatte ihn in der letzten Woche vor allen Ohren gelobt, als sie versucht hatten, den Herzog von seinem Leid abzulenken. Aber es bestand kein Grund, warum Reinmar Tag und Nacht mit ihm zusammenleben sollte. Der Hof war groß genug.
Als kein Widerruf folgte, verhärtete sich Walthers Gesichtsausdruck. »Wie Ihr wünscht.« Er stürmte an den Knappen vorbei aus dem Raum. Gerade eben, dass er die Tür nicht hinter sich zuschlug.
»Herr«, fragte einer der Knappen vorsichtig, »meint Ihr nicht …« Natürlich waren sie auf Walthers Seite, weil sein loses Mundwerk, seine immerwährende gute Laune, einnehmender war als die Jahre in Reinmars Diensten.
»Nein«, sagte Reinmar hart. »Was vorbei ist, ist vorbei.«
* * *
Vieles schwirrte Walther im Kopf herum, als er in die Richtung des Palas schritt, des großen Saals, in dem vor einer Woche das Weihnachtsfest begangen worden war und wo wegen der großen Feuerstelle viele Diener schliefen: der Streit mit Reinmar, die Frage, ob der neue Herzog Friedrich ihm einen festen Platz hier bei Hofe geben oder ihn beseitigen lassen würde, und das rothaarige Mädchen, das er nie wiedersehen würde. Er versuchte, sich davon zu überzeugen, dass dies ein Glück war: Sie hatte eine Zunge, die so scharf war wie die seine, und war davon überzeugt, dass jeder, der die Dinge anders sah als sie, im Unrecht sein musste. Sie wusste von Dichtkunst so wenig, dass ihr Tagelieder unbekannt waren. Und vor allem: Sie war Jüdin.
Aber er hatte sich in ihrer Gegenwart so lebendig gefühlt wie selten, obwohl er nicht mehr als ihre Hand berührt hatte. Bei Mathilde, Martha und all den anderen Frauen wäre so wenig nicht der Rede wert gewesen. Doch er spürte immer noch das Echo ihrer langen, schmalen Finger auf seiner Wange, an seinem Hals, in seinem Haar. Das ihre hatte die Farbe von Purpur und Ebenholz, ein Rot, wie er es vorher nicht gekannt hatte. Ihre Zähne glichen hellem Elfenbein, und ihre Haut schien so weich wie das Fell eines Hermelins.
Unwirsch schüttelte Walther den Kopf. Was würde er noch in diese Frau interpretieren, wenn er seinen Gedanken weiterhin freien Lauf ließ? Er hatte ihre Haut gar nicht berührt! Und doch hatte sie ihn dazu gebracht, an seiner eigenen Gabe zu zweifeln, denn das Taglied, an dem er gerade arbeitete, stellte ihn ganz und gar nicht zufrieden. Noch schlimmer, er hatte die dunkle Ahnung, dass er morgen in die Küche gehen und nach Walnüssen fragen würde.
»Ah, ich habe Euch gesucht«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Vor ihm stand Hugo. »Mein Vater will Euch sprechen.« Walther lag es
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