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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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würde ich mich nach Kräften bemühen, seine Seele zu retten, die wichtiger ist als die Rettung meines Körpers. Und erkennt er nicht die Wahrheit Christi, so würde ich mich nicht von ihm behandeln lassen.«
    Sie dachte an die Menschen in Salerno, die sich zuerst auch nicht von ihr behandeln lassen wollten, nur weil sie eine Deutsche war, und behaupteten, lieber zu sterben, als ihre Hilfe anzunehmen; da es dort immer andere Ärzte gab, waren sie nie auf die letzte Probe gestellt worden.
    Der Bischof ließ sie nicht aus den Augen, und Judith spürte, wie sich Schweißtropfen in ihrem Nacken und auf ihrem Rücken sammelten. Der Ritter, der über den Tod ihres Vetters lachte, hatte ihr keine Angst gemacht; es war die Wahrheit gewesen, als sie Walther erklärte, sie habe sich an jenem Tag nur vor sich selbst gefürchtet, weil der Hass, den sie empfand, sie unversehens erkennen ließ, wie leicht es ihr fiele, die Mörder zu töten. Doch der Bischof machte ihr Angst, hier und jetzt, weil er nicht lachte, weil er nicht prahlte, weil sie nicht den Eindruck hatte, dass er aus Hass sprach. Im Gegenteil, er schien wirklich von dem, was er sagte, überzeugt zu sein. Er würde alles tun, einschließlich der Opferung seines eigenen Lebens, um Menschen zur Annahme seines Glaubens zu zwingen.
    Sie hielten Simons Hände über das Feuer, flüsterte die Stimme ihres Vaters in ihr, und sie schrien, schwöre ab, schwöre ab. Doch Simon zog es vor, zu sterben.
    Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie nicht den Tod wählen würde, wenn man sie vor eine solche Wahl stellen sollte. Sie wollte leben. Simon der Fromme war für seinen Glauben gestorben, dieser Bischof hier mochte sehr wohl imstande sein, das Gleiche zu tun, doch Judith wusste, dass sie, wenn man ihr hier und jetzt ein Schwert an die Kehle setzen und ihr befehlen würde, das Kreuz zu küssen, lieber dem Befehl folgen als ihr Blut vergießen lassen würde. Der Zügel des Maulesels schnitt tief in ihren Handballen, als sie ihn fester und fester um ihre Linke wickelte.
    »Euer Gnaden«, sagte Walther plötzlich, »verzeiht mir meine Unwissenheit, doch käme es nicht gefährlich an die Sünde des Selbstmords heran, wenn Ihr so Euren Tod erzwingen würdet?«
    Der Bischof wandte seinen Blick von ihr ab, und Judith stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte.
    »Keineswegs. Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde, sagt die Schrift. Besteht auch nur eine kleine Möglichkeit, eine Seele zu retten, so muss man sie ergreifen, koste es, was es wolle. Was ist ein Leben hier auf dieser Erde gegen das ewige Leben einer Seele?«
    Sie musste von hier fort, so bald wie möglich. Aus der Gegenwart des Bischofs, doch noch mehr als das musste sie fort aus der erstickenden Leere, die ihrem Leben das nahm, was es lebenswert machte, und von Gefahren, die sich einstellten, wo man nicht darauf gefasst war. Doch sie war nicht grundlos gekommen, und da sie sich nun einmal in Gefahr gebracht hatte, würde sie auch versuchen, noch etwas zu erreichen.
    »Um das Leben einer Seele geht es mir auch«, sagte sie. »Habt Ihr vielleicht ein Exemplar der Psalmen bei Euch? Nun, da der Tag ihrer Hochzeit immer näher rückt, will sich meine Herrin durch die Worte der Heiligen Schrift vorbereiten.« Die Psalmen waren Teil der Thora, ehe sie von den Christen für ihre Bibel genommen wurden, und das Buch, um das sie bitten konnte, ohne einen inneren Verrat zu begehen. Ihn zu fragen, ob er medizinische Schriften mit sich führte, war jedenfalls sinnlos.
    »Ihr liebt die Psalmen?«, fragte der Bischof gedehnt, sich nicht darum kümmernd, dass sie Irene vorgeschoben hatte. »Das wundert mich nicht. Schließlich stammen viele von ihnen von König David.«
    Langsam durchsetzten sich die Angst und die Scham in ihr wieder mit dem Zorn, den sie kaum unter Kontrolle halten konnte. Die Worte, die er und seinesgleichen predigten, waren von ihrem Volk geschrieben worden. Warum sollte er ihr Leben in der Hand halten, er und jeder andere Christ? Und wenn er sich einbildete, er könnte sie mit Anspielungen einschüchtern, dann würde er herausfinden, dass sie trotz aller Machtlosigkeit keine Maus war, sondern zumindest eine Ratte, die beißen konnte, ehe sie von der Katze gefressen wurde.
    »Herr Walther«, sagte sie, »als Sänger werdet Ihr mir sicher zugestehen, dass es keinen größeren Eurer Art gegeben hat als David. Die Hymnen, die man manchmal von anderen Dichtern hört, sind

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