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Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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weit ist, Amen.«
    »Du bist der Herr!«
    »Libera me!«
    Ich hatte erwartet, dass der Hohepriester seine Gemeinde aufstacheln würde, gegen diejenigen vorzugehen, von denen Gefahr drohte: den Behörden, den Patriziern, dem Bürgermeister. Stattdessen ermahnte er sie, sich ruhig zu verhalten. Meine anfängliche Überraschung darüber legte sich rasch, als mir klar wurde, worum es dem Mann ging: die Herrschaft über seine Kongregation leichtgläubiger, von seinem Gauklerzauber tief beeindruckter, sich in der Gegenwart eines mächtigen Geistes wähnender Dummköpfe zu behalten, von denen die Hälfte mit glasigen Augen vor sich hinstierte und nass zwischen den Beinen war von einem Schauer religiöser Ekstase, während die andere Hälfte erregt hin und her pendelte und auf den wahren Höhepunkt des Abends wartete, um auch ihrer pochenden Lust Genugtuung zu verschaffen. Warum hätte er diese Macht aufs Spiel setzen sollen, indem er seine Anhänger in einen wie auch immer motivierten Aufstand führte, den sie nicht für sich entscheiden konnten? Er gaukelte ihnen das Bild eines Feindes vor, der so nicht existierte, weil er wusste, dass nichts eine Gemeinschaft sozusammenhält wie eine äußere Bedrohung, und wenn es nach ihm ging, würden diese unseligen, lächerlichen Erben der eigentlichen Grubenleute noch auf den Zeitpunkt warten, an dem sich die gefallenen Engel endlich vollständig versammelt hätten, wenn der Hohepriester so alt war, dass der Messdiener ihn an den Altar tragen musste. Die Grubenleute meiner Jugend hatten allesamt an ihre Überzeugung geglaubt, so kraus sie auch gewesen sein mochte; ihre Nachfolger dagegen glaubten an die Worte eines Aufschneiders und Hochstaplers hinter einer antiken Maske, und der Hochstapler glaubte lediglich, dass zwei Pfund Fleisch und ein Schankmaß Bier eine gute Mahlzeit abgaben. Wenn die Verzückung der Versammlung nicht so tief gewesen wäre, hätte ich die Situation als lächerlich empfunden; wenn ich nicht gewusst hätte, dass Menschen, die sich selbst so weit hatten treiben lassen, zu buchstäblich jeder Schandtat anzustiften waren, hätte ich weniger Furcht empfunden.
    Es dauerte nicht lange.
    »Ein Opfer!«, schrie eine Frauenstimme.
    »Hallelujah!«
    »Ein Opfer, ein Opfer!« Die heisere Stimme von Lutz.
    »Amen, so ist es!«
    Der Hohepriester breitete die Arme aus. Die Meute wurde still. Die Frau neben mir begann wieder heftiger zu atmen. Sie hatte beide Hände in den Schoß gelegt und rieb sich dort unbewusst; ihr Kleid war hochgerutscht und entblößte Schenkel, die so weiß und prall waren wie ihre Brüste.
    Der Messdiener tauchte hinter den Altar und tappte dann schwerfällig nach vorn, in seiner Hand ein zuckendes, flügelschlagendes Bündel, umgeben von wirbelnden Federn: ein prächtiger Hahn. Auf dem Markt musste er eine nette Stange Geld gekostet haben – oder sein früherer Besitzer suchte noch immer im Hühnerstall nach ihm. Der Hahn krähte in seiner Angst.
    »Rufe die Dämmerung!«, intonierte der Hohepriester, »rufe die Nacht, denn bald wird sie um dich sein, rufe den Morgen, denn dein Opfer wird dich ins Licht führen.«
    »Amen!«
    »Konsekration!«, schrie der Messdiener.
    Das Tranfeuer flackerte erneut auf, ohne dass ich jemanden etwas hätte hineinwerfen sehen – offenbar beherrschte der Hohepriester auch die feineren Tricks. Hinter den hochstiebenden Flammen wurde er beinahe unsichtbar.
    »Libera nie!«, schrie die Frauenstimme wieder.
    »Libera me!«, wiederholte eine andere und noch eine weitere. Innerhalb weniger Augenblick war es ein Dutzend Frauenstimmen, die immer wieder dieselbe Formel riefen, und dass nicht alle ihre Geschlechtsgenossinnen einstimmten, lag nur daran, dass die Stummen bereits zu weit entrückt waren, um mehr zu tun, als zu starren und sich unkontrolliert hin und her zu wiegen. Die Frau an meiner Seite schrie ebenfalls nach vorn. »Libera me!«
    Ich erstarrte, als mir plötzlich klar wurde, worauf es hinauslaufen konnte. Der Ausgang war so weit von mir entfernt, dass ich ihn nicht mit wenigen Sprüngen würde erreichen können, abgesehen davon, dass mir die ganze Meute dann auf den Fersen wäre. Mein Herz begann zu klopfen, und der Schweiß brach mir noch stärker aus. Was sollte ich tun, wenn der religiöse Taumel sich in einer sinnlos zuckenden Verschlingung kopulierender Körper auflöste?
    Jana!
    Doch selbst ohne Janas Gefährte zu sein, hätte ich Grenzen gezogen, und was sich hier abspielte, war weit jenseits meiner

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