Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
persönlichen Toleranzschwelle.
Ich machte mir vollkommen unnötige Sorgen. Die Kongregation war versammelt, um die Macht des Hohepriesters zu demonstrieren, und er war nicht geneigt, auch nur ein Quäntchen davon abzugeben. Eine der Frauen schien einen Wink erhalten zu haben, denn sie stolperte in die Höhe und wand sich durch ihre Brüder und Schwestern zum Altar durch. Es wurde wieder so still wie vorher. Ich konnte sie vor Aufregung und Nervosität stöhnen hören. Das Angstkeuchen der Frau, die man über den Rathausplatz geführt hatte, drängte sich mir auf und machtedie Szene noch grotesker, als sie ohnehin schon war. Die Frau tappte um das Feuer herum und war plötzlich nur noch eine wabernde Figur in der vor Hitze tanzenden Luft. Sie sank vor der dunklen Gestalt des Hohepriesters in die Knie, und die Maske beugte sich über sie.
»Nimm, denn dies ist Fleisch von meinem Fleisch!«, schrie der Messdiener. Ich sah, wie die beiden Gestalten hinter dem Feuer zu einer verschmolzen, die große, drohende, dunkle Gestalt des Hohepriesters und die kleine, knieende der Frau zu seinen Füßen.
»Amen!«, intonierte die Gemeinde. Die Stämmige neben mir stöhnte, und ich bemühte mich, sie nicht anzusehen.
Der Messdiener wirbelte den Hahn herum, und dieser flatterte verzweifelt. Dann packte der Messdiener seinen Hals und drückte zu, und das Flattern wurde noch hektischer. Die goldene Maske des Priesters hinter dem Feuer wiegte sich hin und her, die Frau presste ihr Gesicht an seinen Schoß.
»Liberame!«, seufzte jemand.
»Trink, denn dies ist Blut von meinem Blut!«, schrie der Messdiener, und hinter dem Feuer erklang so etwas wie ein von Metall und Stoff ersticktes dumpfes Ächzen. In der Gemeinde keuchten einige Stimmen auf, und ein paar der gebückten Gestalten sanken hilflos in sich zusammen. Der Messdiener brüllte: » AMEN, SO IST ES !«, und riss dem Hahn den Kopf ab.
Das Blut spritzte in einer Fontäne aus dem Hals des Tiers und sprühte über die Köpfe der am weitesten vorn Knieenden. Die Gemeinde schrie auf, Hände wurden nach vorn gestreckt, um ein paar Tropfen aufzufangen. Die Stämmige neben mir schrie auf und zuckte und fiel gegen mich, die Augen verdreht und mit zitterndem Unterkörper. Ich schob sie weg und ließ sie auf den Boden fallen. Aus der Mitte der Menge sprang eine andere Frau auf und kletterte über die anderen in ihrem Bemühen, nach vorn zu gelangen. Ihre Hände waren wie Klauen, als wolle sie jedem, der versuchte, sie aufzuhalten, die Augen auskratzen. Ich sah undeutlich, wie Lutz sich halb aufrichtete und ihr, beide Fäuste gegen den Schoß gepresst, fast hinterherstürzte, den Mund weit geöffnet und entweder schreiend oder keuchend oder stöhnend. Die schwarze Farbe lief an seinen Wangen herab wie rußiger Schweiß, als er wieder auf die Knie sank. Der Körper des Hahns flatterte wüster denn je mit den Flügeln. Der Messdiener, inzwischen von einer dunkel glänzenden Schicht aus Nässe bedeckt, ballte die Faust, die den Kopf des Hahns hielt, und schüttelte sie triumphierend. Die Frau aus der Mitte der Kongregation taumelte auf die Plattform und den Messdiener zu, während die andere Frau, die Erwählte des Hohepriesters, die von ihrem Gebieter gekostet und von ihm getrunken hatte, mit geschwollenen Lippen wieder hinter dem Feuer hervorstolperte, die Augen weit aufgerissen und nicht mehr von dieser Welt. Libera me\
Doch ich beachtete sie nicht länger, denn mir war plötzlich an der zweiten Gläubigen, die dem Messdiener den zuckenden Körper des Hahnes aus der Hand riss und sich mit dem immer noch hervorquellenden Blut besudelte, den Halsstumpf über ihr Gesicht rieb und Blut und Farbe von ihrer Maskerade darauf verteilte, etwas aufgefallen.
Du bist der Herr ...
Und ich merkte, dass nun auch meine Knie weich wurden und ich ebenso wie der Großteil der Gemeinde beinahe zusammenbrach, wie die Welt sich um mich herum einmal drehte, doch nicht aus Ekstase oder im Höhepunkt einer einsamen, widersinnigen Lust.
Bestimmt nicht.
Die Frau, die sich stöhnend und mit hektischen Bewegungen den Körper des toten Hahnes über Gesicht, Arme und Oberkörper rieb und ihn endlich zwischen ihre Beine presste und mit ihm auf den Boden der Plattform sank, war meine Tochter Maria.
6.
Als sie an meinem Versteck draußen im Gebüsch vorbeiging, packte ich sie am Arm. Sie keuchte, aber es hörte sich eher wie ein Reflex an, als dass sie wirklich erschrocken war. Ich war entsetzt, wie dünn
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