Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
schien im Stehen zu dösen; mein Reitpferd war am Kutschbock festgebunden und warf den Kopf zurück, als es mich kommen hörte. Der alte Kutscher war nirgends zu sehen. Maria schritt neben mir her, als ginge sie das alles nichts an.
»Albert!«, zischte ich. »Aufwachen!«
»Die Kutsche des Bischofs«, sagte sie.
»Er hat dich manchmal auf dem Kutschbock mitfahren lassen, erinnerst du dich?«
»Er ist tot.«
»Für mich ist er noch immer lebendig.«
»Für dich war die Vergangenheit immer lebendiger als die Gegenwart.«
Ich krümmte mich bei dieser Aussage und versuchte gleichzeitig, sie nicht merken zu lassen, wie sie mich traf. Es war so unwirklich, wie es nur sein konnte: Vor wenigen Augenblicken noch hatte sie sich in Ekstase das Blut eines geköpften Hahns auf dem Gesicht verschmiert, jetzt drehte sie mit Leichtigkeit das Messer in meinen schlimmsten Wunden, ohne dass ihr auch nur eine Gefühlsregung anzumerken gewesen wäre. Während der unheiligen Konsekration war sie ein Bündel irregeleiteter Leidenschaft gewesen. Jetzt war sie eine leere Hülle, die sich erst allmählich wieder mit einer Seele zu füllen schien, und bis es so weit war, sprach die Schwärze in ihrem Leib zu mir. Ich knirschte mit den Zähnen.
»Läuft es immer so ab?«, fragte ich.
»Was? Die heilige Messe?«
»Die heilige Messe ...«
Sie musterte mich mit ihren ausdruckslosen Augen. Ich sah eine Herausforderung, wo wahrscheinlich keine war. Es war gesagt, bevor ich es aufhalten konnte. »Hat er auch dich schon ›befreit‹?«
Sie antwortete nicht. Mein Magen drehte sich um. Hatte ich diese Frage wirklich gestellt? Aber der Gedanke, dass meine kleine Tochter dem lächerlichen Blender in der alten römischen Maske für seine perversen Spiele gedient haben mochte ...
»Albert!«, schrie ich fast. »Wach endlich auf.«
Die Pferde fuhren zusammen. In einer Hütte in der Nachbarschaft hustete jemand. Ich zerrte Maria weiter und riss den Verschlag der Kutsche auf. Es war fast so dunkel dort wie im Dickicht des Gräberfeldes, aber das Licht genügte, um zu erkennen, dass Albert verschwunden war.
»Steig ein«, sagte ich zu Maria und spürte einen Knoten im Magen. »Wozu?«
Ich wählte die einfachste Antwort, während ich mir den Hals ausrenkte in der Hoffnung, dass Albert nur kurz beiseite getreten war, weil er sein Wasser abschlagen musste. Wenn dies der Fall war, dann hatte er anscheinend beschlossen, sich in Göggingen zu erleichtern. Ich schnaubte vor Zorn. »Um dich in die Stadt zurückzubringen.«
»Ich habe dort nichts verloren.«
»Du hast hier draußen nichts verloren. Wir beide nicht.«
»Wer ist Albert?«
Ich war beinahe erstaunt über so viel Anteilnahme an der Umwelt. Vielleicht erschöpfte sich die Wirkung der Ekstase, in die sie und die anderen Unseligen in den Katakomben durch die rhythmischen Worte, den Fackelrauch und den Weihrauchduft versetzt worden waren. Ich nahm es an; ich hoffte es.
»Der Mann, neben dem du auf dem Kutschbock gesessen hast, wenn der Bischof dich mitfahren ließ.«
Sie zuckte mit den Schultern. Ich ließ ihren Arm los und war bereit, zuzupacken, wenn sie wegzulaufen versuchte. Sie musterte mich ohne sichtbare Anteilnahme. Ich hob die Hand und näherte sie so vorsichtig ihrem Gesicht, wie man es tut, wenn man ein nervöses Pferd streicheln will, das mit zitternden Nüstern vor einem steht. Der Grind aus Blut und fettigem Ruß ließ sich nicht aus ihrem Gesicht wischen – nicht, ohne grob zu werden. Ich senkte die Hand wieder und spürte, wie meine Finger von dem Dreck auf ihren Wangen klebten.
»Steig ein«, sagte ich sanfter. »Komm, Maria. Lass uns nach Hause fahren.«
Sie lächelte beinahe, doch es war kein Lächeln, das erleichtert wirkte. »Du kannst mich nicht halten«, sagte sie und stieg ein, ohne dass ich sie noch einmal hätte auffordern müssen.
»Ich will es wenigstens versuchen.«
»Zu spät«, sagte sie und lehnte sich in die harte Lederpolsterung zurück. Ich schloss den Verschlag.
Albert war nicht in der näheren Umgebung der Kutsche zu finden. Er war nicht in der halbzerfallenen Hütte und auch sonst nicht in Sichtweite. Die Pfahlsiedlung war nicht wie dienahe Stadt eine sinnvoll gewachsene Ansiedlung mit Häusern und Gassen, sondern das Strandgut menschlicher Hoffnungen, und so wie vom Fluss angeschwemmter Unrat bildete sie einen wirren Haufen unregelmäßig verteilter Gebäude, der nur eine einzige Regelmäßigkeit aufwies – die breite Straße, die die
Weitere Kostenlose Bücher