Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
Pfahlsiedlung durchschnitt und direkt auf das Gögginger Tor zulief. Alles, was links und rechts davon lag, folgte keiner baumeisterlichen Logik.
Ich sah mich noch einmal um, doch kein alter Kutscher mit wehendem weißem Haar näherte sich und brüllte eine Erklärung für sein Verschwinden, die man bis in die Stadt hinein gehört hätte. Schließlich kletterte ich auf den Kutschbock und stellte mich dort auf das Sitzbrett. Die Schatten sahen durch die veränderte Blickhöhe anders aus, das war alles. Ich versuchte so etwas wie einen leisen Pfiff. Nach ein paar Augenblicken bildete ich mir ein, Schritte zu hören, und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Es war nicht Albert, und es war auch keiner der Grubenleute. Es war nicht der unbekannte Eindringling, mit dem ich über die Gemeinde hinweg einen kurzen, überraschten Blickkontakt gehabt hatte. Und es war nicht Lutz. Für Letzteres war ich dankbar. Es war nichts außer dem Schlagen meines Herzens und dem Klopfen des Blutes in meinen Ohren und der Erinnerung an die verstohlenen Schritte durch die Gänge der Katakomben. Sie klangen in meinen Ohren nach wie das Geheule der verhexten Gemeinde.
Ich schnalzte mit der Zunge und rüttelte ungeschickt an den Zügeln. Das Kutschpferd war klüger als ich und setzte sich in Bewegung, das Reitpferd trabte fügsam hinterher. Hinter der Pfahlsiedlung erhob sich der Turm des Gögginger Tors mit den Lichtpunkten, die die Ölfeuer auf dem Turmkranz bildeten. Ich dachte vage, dass ich nun endlich, nach so vielen Jahren, ganz allein über die Kutsche des Bischofs verfügte und wieder nicht darin saß. Ich konnte nicht einmal darüber lächeln.
Wäre Albert in das Gräberfeld eingedrungen, hätte einer der herauskommenden Grubenleute ihn sicher entdeckt und Alarm geschlagen. Andererseits konnte ich mir auch nichtdenken, wo er sonst sein mochte. Ich knirschte mit den Zähnen. Offenbar blieb mir nichts übrig, als ihn zu suchen, ohne mich bemerkbar zu machen, denn ich konnte nicht laut nach ihm rufen, wenn ich mir nicht sämtliches Gesindel, das in der Pfahlsiedlung in unruhigem Schlummer lag, auf den Hals hetzen wollte. Ich lenkte die Kutsche auf die Straße hinaus. Sie war breit und hell genug von den schimmernden Wolken erleuchtet, um erkennen zu lassen, dass wir die einzigen sichtbaren Lebewesen waren, die sich darauf bewegten. Die Pfahlsiedlung hatte im schwindenden Tageslicht kleiner gewirkt – in der Nacht schien sie sich gestreckt zu haben, eine unendliche Ansammlung windschiefer Hütten und sauer gewordener Hoffnungen. Ich erinnerte mich, dass weiter vorn eine nicht ganz so enge Gasse von der Straße abbog und zu einem Tümpel führte, den ich im Abenddämmer hatte glitzern sehen: die Hauptgasse der Pfahlsiedlung, die sich um den wasserspendenden, flachen Tümpel gesammelt hatte wie drinnen in der Stadt die Häuser um die Kirchen. Ich kämpfte gegen das vor meinem inneren Auge aufsteigende Bild von Albert, der in der Dunkelheit in den Tümpel gefallen war und jetzt auf seinem Grund lag, eine durch die Oberfläche trübe schimmernde Gestalt, deren Haar im Wasser trieb wie bleicher Tang. Es drängte mich, kurz abzubiegen, um nachzusehen und dieses Bild aus meinem Kopf zu vertreiben.
Maria begann mit tonloser Stimme zu sprechen. Ich lehnte mich nach hinten, um sie zu verstehen, und erkannte den Rhythmus, den ich früher oft in der Kirche und in dieser Nacht unter Umständen gehört hatte, die ich lieber vergessen würde. Sie sang die Worte aus dem fünfundzwanzigsten Kapitel von Ezechiel, die der Hohepriester vorgetragen hatte; sie sang sie in dessen grotesker Version. Nach einer Weile schwieg sie.
»Maria«, sagte ich leise, »kannst du mich hören?«
Die Antwort ließ auf sich warten. »Ja.«
»Wie lange gehörst du schon zu ... denen?«
»Ich habe nie wirklich anderswo hingehört.«
»Wir waren eine Familie, bevor deine Mutter starb.«
»Was willst du von mir, Vater?«
»Gib dir die Antwort selbst.«
»Libera me«, sagte sie, und es trieb mir plötzlich die Tränen in die Augen und ließ mich verstummen. Gib mir die Freiheit.
Ich wusste, dass es anders gemeint war als von der Verzückten, die sich dem Hohepriester als Gefäß für seine perverse Konsekration angedient hatte.
Befreie mich.
Von dir.
»Nein«, flüsterte ich. »Ich nehme dir die Freiheit nicht weg. Ich will sie dir wiedergeben.«
»Das kannst du nicht.«
»Warum glaubst du, dass ich das nicht kann?«
»Du kannst nichts geben, was du nicht
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