Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
zögerte keinen Augenblick: Er machte eine Satz auf das breite Kreuz des Knaben und sprang von dieser Position aus mühelos auf den Rücken der Ziege, die überrascht meckerte. Der Hund bellte mit überschnappender Stimme und bemühte sich, nicht in letzter Sekunde wieder herunterzufallen. Sein kleines Schwänzchen bewegte sich so hektisch wie der Flügel eines Vogels. Wenn er hätte grinsen können, hätte er es getan. Der Junge auf dem Boden grunzte laut vor Begeisterung, während der Besitzer des Hundes die Augen zusammenkniff, doch als die anderen Gaukler zu klatschen begannen, entspannte sich sein Gesicht. Er sah von dem Jungen auf dem Boden zu uns herüber und zurück. Der Hund jaulte und bellte wie ein Verrückter seinen Triumph heraus.
»Wenn Sie etwas wissen, dann reden Sie«, sagte ich zu Wilhelm.
»Was ich weiß, nutzt in diesem Fall nichts.«
»Wie soll Ihre Hilfe dann aussehen?«
Der Gaukler, dem der Hund gehörte, trat plötzlich neben uns. »Der Knabe – gehört er zu euch?«
Wilhelm blickte ihn überrascht an.
»Ja.«
»Ist er dein Bruder?«
»Nein.«
»Wir könnten ihn gebrauchen. Er könnte die Leute zum Lachen bringen.«
»Er bleibt bei mir.« Wilhelm zeigte sein schüchternes Lächeln.
»Er ist blödsinnig. Früher oder später wird er dir lästig. Wir könnten ihm ein paar Kunststücke beibringen.«
Wilhelms verzerrtes Lächeln erstarb. »Ich brauche ihn«, sagte er.
Der Gaukler riss die Augen auf und schaffte es gleichzeitig, eine anzügliche Miene zu machen. »Was? Ich kann nicht glauben, dass du und er zwei Florentiner seid ...«
»Er ist mein Medium.«
Das Grinsen wich aus dem Gesicht des Gauklers, als er die Bedeutung der Antwort erfasste. Dann trat er rasch einen Schritt zurück und hob eine Hand gegen Wilhelms Gesicht, die Faust geballt, Zeige- und kleinen Finger gestreckt. Seine Gefährten drängten sich eng zusammen. Einer griff nach den Hörnern der Ziege und zerrte sie zu sich heran, ein anderer schnappte sich den schwankenden Hund und hob ihn in die Höhe, bevor er abspringen konnte. Der Knabe auf dem Boden blickte verwirrt um sich, bis der Besitzer des Hundes die Peitsche hob und neben ihm auf den Boden knallen ließ. Der Junge schrie auf und kroch auf dem Bauch zu uns herüber. Als er Wilhelms Beine erreichte, umklammerte er sie und wimmerte furchtsam.
Ich wandte mich ab und schritt davon. In meinem Rücken hörte ich die Flüche der Gaukler, wie sie Wilhelm und den Knaben aufforderten, auch zu verschwinden. Der Alchimist stellte den Jungen auf die Beine und lief mir nach.
»Warum verachten Sie mich?«, keuchte er.
»Ich verachte nicht Sie, sondern das, was Sie sind.«
»Aber ich kann diese Morde beenden.«
»Nicht Sie. Nicht mit Ihren Methoden.«
»Es sind die einzigen, die hier nutzen.«
Ich blieb stehen. Der Wind fuhr mir in die Haare, Sand prasselte in mein Gesicht. In wenigen Augenblicken würde das Gewitter losbrechen.
»Selbst die Gaukler hassen Sie«, sagte ich. »Können Sie denn die Zeichen nicht erkennen? Verschwinden Sie, solange Sie es noch können.«
Ich wandte mich ab, und diesmal lief er mir nicht hinterdrein. Aus der Entfernung blickte ich mich noch einmal um. Er war in der Gasse stehen geblieben und ließ den Kopf hängen. Der Junge hatte wieder seine Hand genommen. Aus der Distanz wirkten die Rollen vertauscht: Der bullige Schwachsinnige schien den schmalbrüstigen Alchimisten zu führen anstatt umgekehrt. So oder so wandelten sie auf dem falschen Pfad.
NEBEL
1.
Das Unwetter brach los, als ich über den Turnierplatz im Fronhof eilte. Es gab einen gewaltigen Windstoß, der den Sand in Schleiern vor mir herwirbelte. Als ich am anderen Ende ankam, fiel bereits der Regen in so dichten Tropfen, dass das Wasser vom Boden bis in mein Gesicht hochspritzte. Ich rannte die letzten Schritte und brachte mich im Eingang des Bischofspalastes in Sicherheit. Das Wasser lief mir aus den Haaren und ins Gesicht. Hinter mir rauschte der Regenvorhang herab und erfüllte die Luft mit dem erdigen Geruch frisch angefeuchteten Staubs.
Der Schreiber in Bischof Johanns Stube fuhr herum, als ich mit großen Schritten an ihm vorbei zu der geschlossenen Tür eilte, hinter der sich das Allerheiligste des Bischofs und dessen Burggrafen befand. Er streckte die Hand aus und öffnete den Mund, doch ich war durch die Tür, bevor er einen Ton herausbekam. Der dumpfe Knall des zuschlagenden Türblatts übertönte jede noch folgende Lautäußerung aus seinem Mund.
Gregor
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