Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
nach mir betreten haben, hätte ich sie sehen müssen. Sie standen in geringem Abstand zu dem frisch aufgeworfenen Erdhügel, als wären sie aus einem der umliegenden Gräber heraufgestiegen. Wilhelm stand ungelenk da und ließ die Arme an den Seiten herabhängen wie jemand, der an einer Last zu lange und zu schwer geschleppt hat. Der Junge hatte den Blick nach unten gerichtet. Er gab kleine, faszinierte Laute von sich. Wilhelm drehte sich um, als er meine Schritte hörte, und trat unwillkürlich beiseite. Ich konnte erkennen, was den Jungen diesmal fesselte: ein kleines helles Ding auf dem Boden. Der Totengräber oder einer seiner Helfer hatte Marias nigromantisches Symbol aus dem Grab gefischt. Der Schwachsinnige ging in die Hocke und reckte den Kopf so weit er konnte nach vorn, bis seine Nase nur noch wenige Handspannen von dem strohgeflochtenen Zeichen entfernt war. Aus seinem Mund kamen jetzt heisere Geräusche; erst nach einigen Momenten wurde mir klar, dass er sang.
Ich ging um den Knaben herum und gab dem ungelenken Trigramm einen heftigen Tritt mit der Stiefelspitze. Es sprang hinüber auf den flachen Erdhügel von Dädalus' Grab, wo es liegen blieb wie eine Verschmutzung. Der Junge setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden und starrte mit geweiteten Augen zu mir herauf. Ich seufzte und hielt ihm die Hand hin, um ihn hochzuziehen. Er ergriff sie nicht, sondern kroch rückwärts wie ein Krebs, bis er genügend Abstand zwischen meine Füße und sich selbst gebracht hatte.
Wilhelm blickte mit zuckenden Mundwinkeln zu mir herüber.
»Jemand wollte, dass es mit ihm beerdigt wird«, sagte ich. Das schien Wilhelm noch mehr zu erschrecken als meine Grobheit.
»Wer?«, stieß er mit aufgerissenen Augen hervor.
»Ich selbst hätte es am liebsten verbrannt.«
Wilhelm atmete aus. Seine Schultern sanken herab. Er musterte mich, bis sich wieder dieses um Vertrauen heischende, verzerrte Lächeln auf seine Lippen stahl, das noch resignierter wirkte als am Morgen.
»Das Feuer kann das Stroh verzehren«, erklärte er, »aber nicht die Furcht.«
Ich kam unbehelligt bis Sankt Anna. Inzwischen war das grelle Mittagslicht einem diffusen Dämmer gewichen, der besser in die Abendstunden eines langen Tages gepasst hätte. Der Wind fegte die dumpfwarme Luft mit langen Böen durch die Gassen wie aus einem Ofen kommende Atemzüge. So lange er nicht zu plötzlichen Sturmstößen erwachte und den Staub der Gassen aufpeitschte, würde das Gewitter nicht losbrechen. Mehrere Glocken hatten jetzt das Mittagsläuten aufgenommen. Ihr Ruf und das drohende Unwetter hatten fast alle Menschen aus den Seitengassen vertrieben; selbst Brot- und Weinmarkt würden unter diesen Umständen beinahe menschenleer sein. Ich schwitzte und kniff die Augen zusammen gegen den Wind und die Sandkörner, die er vor sich hertrieb.
Die Gaukler waren noch immer auf ihrem Platz, doch die meisten ihrer Zuschauer waren gegangen. Der kleine Hund war ebenfalls noch immer da; seine Künste hatten sich nicht verbessert. Sein Meister hatte jegliches gauklerhafte Gehabe abgelegt und fletschte die Zähne vor Wut über die Ungeschicklichkeit des kleinen Tiers. Mir widmete er keinen Blick. Die Peitsche in seiner Hand machte kleine Bewegungen, und die angststarren Augen des Hundes klebten an den Pendelbewegungen, die das Ende der Peitschenschnur über dem Pflaster beschrieb.
»Dädalus war erst der Anfang.«
Ich fuhr herum. Wilhelm und sein Begleiter hatten mich eingeholt. Der Alchimist sah mich flehentlich an; der Schwachsinnige hielt seine Hand und schielte beunruhigt in die tief hängenden Wolken und das nicht enden wollende Donnergrollen, das aus ihnen herabklang. Dann entdeckte er den Hund und vergaß, dass er sich vor dem Gewitter fürchtete. Entzückt machte er sich von der Hand Wilhelms los.
»Was wissen Sie darüber?«, stieß ich hervor.
»Es wird weitere Morde geben.«
»Was wollen Sie? Sich wichtig machen? Warum gehen Sie nicht und drehen irgendeinem alten Trottel ein Jugendelixier an?«
Wilhelm schüttelte den Kopf.
»Angst vor Jos Onsorg und seinen Hexenjägern?«
»Der Bürgermeister ist meine geringste Sorge.«
»Das haben die Grubenleute damals auch geglaubt. Und es gibt sie nicht mehr.«
»Es gibt immer Menschen, die den Glauben an sich verloren haben und einem Symbol nachlaufen, das einer in die Höhe hält. Dem goldenen Kalb etwa ...«
»... oder einem getrockneten Stück Pferdekot, das jemand den Stein der Weisen nennt«, setzte ich
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