Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
stand an der Wand, Fässer, Kisten und in Wachstuch gewickelte Ballen. Wer von der Straße hereinkommen wollte, konnte sich bedienen, ohne dass ihn jemand gehindert hätte. Ebenso wenig hinderte mich jemand daran, tiefer in das Gebäude einzudringen, oder kam auch nur, um mich nach meinen Wünschen zu fragen: Ulrich Hoechstetters Familien- und Geschäftssitz, einen Tag nachdem ein Eindringling innerhalb der Mauern dieses Hauses einen Mord begangen hatte und unerkannt entkommen war.
10.
In der Schreibstube Ludwig Stinglhammers wurde mir das beunruhigende Gefühl zuteil, dass nichts von allem passiert war, dessen Zeuge ich am Vortag geworden war. Die beiden Schreiber – der Stotterer und der Tintengesichtige – standen über ihre Pulte gebeugt und sortierten Listen oder Dokumente, die sie entweder beiseite legten oder auf einem Stapel sammelten, je nachdem, welcher Inhalt sich ihrer gelangweilt-routinierten Überprüfung der Papiere erschloss. Jeder hatte eine Lampe vor sich stehen wie eine Laterne, die mit dünner Haut bespannt war und ein diffuses Licht in einem kleinen Umkreis verbreitete, in dem sich besser lesen ließ als mit einer unruhigen offenen Flamme. Das trübe Nebellicht, das nur unwillig durch das Fenster sickerte, hätte kaum gereicht, mit dem Finger die Zeile zu finden, in der sich ein sperriges Wort dem ersten Entzifferungsversuch widersetzte.
Der stotternde Schreiber blickte auf, erkannte mich und wagte ein scheues Lächeln. Sein Kollege verzog das Gesicht so wenig wie am Vortag.
»Inventur für den Nachfolger Stinglhammers?«, fragte ich den Stotterer. Er schüttelte den Kopf.
»N-n-nein«, brachte er heraus und sah verlegen zu Boden. Wenn er seine Tätigkeit noch genauer erläutern wollte, hinderte ihn sein Sprachfehler daran.
»Wie komme ich zu Karl Hoechstetter?«
»K-k-k-?«
»Dem Faktor des Hauses.«
»W-w-was wollen Sie denn von ihm?«
Ich zuckte mit den Schultern, und er sah ein, dass es ihn nichts anging. Nach einem Blickwechsel mit demTintengesichtigen seufzte er und beschwerte die Rolle Pergament, die vor ihm auf dem Pult lag, mit einem Säckchen voller Sand. Als er zurücktrat, entdeckte er, dass seine Fingerspitzen voller aufgelöster Tinte waren, wo er beim Umblättern einer Seite daran geleckt hatte, und er dachte einen Augenblick nach, bevor er sie unter den Achseln seines Hemdes säuberte. Als er die Arme hob, sah ich, dass das Hemd an den entsprechenden Stellen schwarz war, als habe der Färber einen neuen Modestil ausprobiert. Er nahm den Stapel Papier, den sie aufeinander geschichtet hatten, trottete zur Tür und hielt sie mir auf. »Ich b-b-bringe Sie hin.«
Er führte mich über die breite Treppe nach oben in einen Saal, dessen spitzbogige Fenster ins Nichts draußen schauten. Jemand stapelte Holzscheite neben die große Kaminöffnung in der äußeren Ecke, doch es war niemand da, der Anstalten machte, ein Feuer zu entzünden. Der Saal führte in einen engen Gang, in dem es nach abgestandener Luft roch, und zu einer weiteren, engeren Treppe, die in den zweiten Stock des Gebäudes und zu den Räumen führte, die der Familie, ihren Freunden und Gästen und ihren vertrautesten Dienstboten vorbehalten waren. Ich protestierte nicht, als der Schreiber mich dort hinaufführte; er musste selbst wissen, was er tat. Für mich war die Tatsache, dass der Schreiber eines Buchhalters des Herrn einen Unbekannten bis ins Allerheiligste des Hauses führen konnte, ohne dass er wenigstens einmal nach seinem Wohin gefragt worden wäre, ein weiteres Zeichen, dass die Dinge im Hause Hoechstetter nicht zum Besten standen. Die eine oder andere Dienstmagd oder ein Knecht hatten sich an uns vorbeigedrückt, während wir das Haus durchquerten, und bevor wir die Treppe ins oberste Geschoss betraten, mussten wir über einen Schlafenden steigen, der in seinen eigenen Weinausdünstungen wie ein Toter lag – doch unser Ziel interessierte niemanden. Der Schreiber erklomm die Treppe ohne Zögern.
»H-h-h-Herr Hoechstetter hat sein Arbeitszimmer dort oben«, erklärte er. »Alle F-f-f-familienangeh-h-hörigen h-h-haben ...«
Ich nickte, und er brach dankbar ab. Wir schritten durcheinen weiteren Gang, der nur von gelegentlich offenen Türen Licht erhielt. Ich spähte hinein: spärlich möblierte kleine Räume mit schmucklosen Wänden, in denen Bänke und Schemel und hin und wieder ein Tisch standen und die nur dann zum Leben erwachten, wenn Geschäftsverhandlungen geführt oder ein Bankett
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