Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
Stadt verlassen, so lange ich noch kann«, rief ich ihm hinterher.
Er drehte sich um und blieb stehen. »Wegen der Behörden?«
»Das auch. Wenn Lutz herausfindet, dass Sie mir geholfen haben, besitzen Sie einen veritablen Feind.«
»Ich verlasse mich darauf, dass dann Sie mich raushauen.« Er versuchte zu lächeln, was zu seiner üblichen weinerlichen Grimasse gerann.
»Was immer auch zwischen uns ist: Danke für meine Rettung«, sagte ich. Ich wandte mich an den Schwachsinnigen und nickte auch ihm zu. »Toller Trick mit dem Feuer«, sagte ich. »Gut gemacht.«
Das Gesicht des Knaben zersplitterte in einem Grinsen, das nur Zähne und tausend Lachfalten zeigte. Wie viel er von meinem Lob verstanden hatte, war mir nicht klar, aber dasses ein Lob gewesen war, hatte er mitbekommen. Plötzlich ließ er Wilhelms Hand los und galoppierte unbeholfen die paar Mannslängen zu mir zurück, und noch während ich überrascht einen Schritt zurücktrat, schlang er die Arme um mich und drückte mich heftig an sich. Ich hörte ihn entzückt brummen und grunzen.
»Ist ja gut«, sagte ich und versuchte mich von meiner Überraschung zu erholen. Ich umarmte ihn unbeholfen zurück. »Auch an dich danke, mein Junge.« Er ließ mich los und machte einen Luftsprung, bevor er wieder zu Wilhelm zurücktrabte. Er nahm ihn wieder an der Hand und ließ sich von ihm davonziehen.
»Sind es die Grubenleute?«, rief ich Wilhelm hinterher. »Wollen Sie mir das sagen? Sind sie wieder zurück?«
Er war nur noch eine kleine, gebeugte Gestalt neben der vierschrötigen Form des Knaben. Seine Stimme klang jedoch klar durch den Nebel.
»Wer sagt Ihnen, dass sie jemals weg waren?«
ZEREMONIEN
1.
Der steile Weg den Perlachberg hinauf war so düster, dass es schien, die Dämmerung habe sich um einen halben Tag verfrüht. Ich hatte das Gefühl, die Nebelschwaden aus dem tiefer gelegenen Jakoberviertel mit seinen vielen Kanälen noch mit hinaufzutragen.
Die auf dem Marktplatz verbliebenen Karren waren Schemen, die von einer Schlacht übrig gebliebene Trosswagen sein konnten. Die Gefallenen der Schlacht waren bereits entfernt worden, und nur ihre Spuren waren noch zu sehen: Scherben vor der Metzg, verstreutes Korn, verlorene Besenreiser, zerquetschte Rübenstrünke, Gänsefedern, deren dünnste Härchen in einer unfühlbaren Brise zitterten wie vor Kälte, Blut zwischen den Pflastersteinen. Die Schalen eines aufgeschlagenen Eis schwammen in seinem eigenen Dotter; der Dotter war ein dunkel-blutiges, klumpiges Ding, das vage Umrisse eines begonnenen Lebens zeigte, das vielleicht noch zu jung gewesen war, um seinen vorzeitigen Tod überhaupt zu spüren. Die Gerüche vom Fischmarkt waren scharf. Ich wandte mich im Vorübergehen zu dem Blut auf dem Pflaster um. Es war zu viel, um von einem Fisch zu stammen.
Ich hatte die Mittagsglocken der Sext gehört, während ich vom Jakoberviertel wieder herübergestapft war. Die wenigen Käufer, die ihre Besorgungen noch nicht erledigt hatten, irrten zwischen den nur noch spärlich verteilten Marktkarren umher. Einkaufs- und Verkaufstätigkeit verliefen stumm. Ich betrat das Rathaus durch den hohen, spitzbogigen Eingang im südlichen Drittel seiner aus drei wuchtigen Giebeln bestehenden Fassade, ohne dass mich jemand daran hinderte. Auch im Torgang standen keine der Wachen mehr, die heute Morgen nochzahlreicher denn je das Marktgeschehen überwacht hatten. Meine Schritte waren laut auf dem steingepflasterten Boden des Eingangs und nicht leiser auf der engen Treppe, die ins erste Geschoss zur Herrenstube hinaufführte, wo stuckverzierte, mit Maßwerk und kleinen Fialen versehene Fenster auf den Marktplatz hinaussahen. An der Decke der Herrenstube schimmerten Vergoldungen und bunte Fresken auf dem dunklen Holz. In einer Ecke des großen Saals standen ein paar Männer beisammen und starrten auf den Platz hinaus, ohne sich zu unterhalten. Sie zuckten mit den Schultern, als ich sie nach dem Bürgermeister fragte; sie wirkten, als hätten sie etwas gesehen, was ihr Vertrauen in den restlichen Tag erschüttert hatte. Mein Herz begann plötzlich schneller zu schlagen, als ich an Hilarius Wilhelms Prophezeiung dachte.
Das zweite Geschoss bestand aus Schreibstuben und leer stehenden Räumen, die man in Schlafkammern verwandeln konnte, wenn hoher Besuch mit einem umfangreichen Tross in der Stadt erwartet wurde. Die Schreibstuben waren fast ausnahmslos ebenso leer, und die wenigen Männer, die darin hockten, wussten über
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