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Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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den Aufenthaltsort des Bürgermeisters ebenso wenig Bescheid wie die Ratsherren unten in der Herrenstube. Die Türen zu den Archiven und zum Trockenspeicher unter den drei Dachfirsten waren geschlossen. Ich stand am oberen Ende der Treppe und hatte das Gefühl, in ein Geisterhaus geraten zu sein, das seit Menschenaltern leer stand und in dem ich die Seelen Verstorbener befragt hatte statt lebender Menschen. Ich wusste, dass es nicht allein daran liegen konnte, dass viele der Schreiber in der Sextmesse und viele der Ratsherren zu Hause waren, um über die Mittagszeit ihren eigenen Geschäften nachzugehen. Im Inneren des Rathauses war es so still, dass ich die hölzernen Balken knacken hören konnte und das Stöhnen des Rahmenwerks.
    Etwas war passiert. Man musste nicht besonders sensibel sein, um das zu erkennen. Ich stieg die Treppe wieder hinunter zur Herrenstube und war entschlossen, die Ratsherren dort zu befragen, aber als ich ankam, war auch der große Saalvollkommen leer. Von draußen ertönte das Rumpeln eines Marktkarrens, der langsam über das Pflaster geschoben wurde, und meine Nackenhaare stellten sich auf, denn es hörte sich nicht anders an als der Schinderkarren, der einen Verurteilten zum Richtplatz auf dem Fischmarkt brachte. Ich sah zum Fenster hinaus und war schockiert, dass der Rathausplatz von hier oben noch mehr einem Schlachtfeld glich, über das der Nebel zieht, weil selbst die Sonne die Grausamkeiten nicht mehr ansehen mag. Der Blutfleck war fast direkt vor dem Rathausturm und aus dieser Perspektive so groß, dass ich schluckte. Der Marktkarren ratterte daran vorbei, gezogen von einem gebückten Mann, der peinlich darauf achtete, dem Blut auszuweichen. Sein Karren war noch halb voll; offenbar hatte Elisabeth Klotz mit ihren Besorgungen zu den wenigen gehört, deren Herrschaft oder sie selbst nicht zu eingeschüchtert waren, um die Vorräte des Hauses wieder aufzustocken.
    Ich trat wieder ins Treppenhaus hinaus, in dem die Geräusche der Karrenräder laut genug widerhallten, um außer dem Stöhnen des Gebälks alle anderen Geräusche zu übertönen – speziell die, die vielleicht eine Menschenseele in diesem riesigen Haus verursacht hätte.
    Es dauerte ein paar weitere Sekunden, bis mir klar war, dass das Stöhnen von einer Menschenseele kam.
    Im Rathaus fanden auch die Gerichtsverhandlungen des weltlichen Gerichts statt, in der Herrenstube, unter den golden schimmernden Bemalungen der Holzdecke, in der Ecke neben dem Kamin, die mit halbhohen Holzwänden, einer umlaufenden Holzbank und einem wuchtigen Tisch zu einer Gerichtslaube gestaltet war; selbst die Deckenbemalung wies hier stilisierte Lindenblätter und Zweige auf, die sich über die Köpfe des Richters und seiner Beisitzer spannten. Die Gefangenen wurden zu diesem Zweck aus dem Haus des Stadtvogts oder aus dem Schinderhaus hierher gebracht, je nachdem, wo man sie eingesperrt hatte. Das Rathaus selbst wies, anders als der Bischofspalast, keine Gefängniszellen auf. Es besaß jedoch eine enge, kalte Peinkammer in seinem Kellergeschoss, in dieder Angeklagte verbracht wurde, wenn seine Tat schwer wog und keine Zeugen vorhanden waren und kein freiwilliges Geständnis abgelegt wurde. In der Regel begann die peinliche Befragung am Nachmittag; hier hatte es jemand sehr eilig gehabt.
    Vor der Tür zur Peinkammer stand keine Wache; die Tür selbst war halb offen. Die Kammer zu finden wäre selbst für jemanden, der keine Ortskenntnis besaß, leicht gewesen – das Stöhnen hatte mir den Weg gewiesen. Mein Herz klopfte und meine Hände waren feucht, als ich mich der Tür näherte und zögerte, sie zu öffnen. Was darin geschah, war eine Sache zwischen dem Angeklagten, dem Gericht und dem Henker und hatte nichts mit mir zu tun. Das Stöhnen kam aus einer Kehle, die vom Weinen und von Schmerzensschreien wund war.
    Die Tür wurde zur Gänze aufgestoßen, noch während ich zögernd davor stand. Jos Onsorg platzte heraus und stutzte, als er mich stehen sah. Er schien mich nicht zu erkennen. Sein Haar stand wirr vom Kopf ab und sein Gewand war unordentlich. Er war erhitzt, als ob er gelaufen wäre; sein Kopf saß mit rotem Gesicht auf seinem hoch gewachsenen Körper und ließ das blonde Haar fast weiß und seine hellblauen Augen wie die eines Blinden wirken. Ich dachte unzusammenhängend: Er kann seine Abstammung auf keinen Fall verleugnen.
    Auf der Bank saß eine schmale Gestalt mit geschorenem Kopf und herabhängenden Armen, deren Oberkörper vor und

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