Das Spiel des Saengers Historischer Roman
ihren richtigen Namen nicht genannt, aber die Äbtissin würde es sich jetzt zusammenreimen, wenn sie nicht mit Blindheit geschlagen war. Sie hatte gestern Abend schon sehr verbiestert dreingeschaut. Wahrscheinlich würde sie als Nächstes ihr Seelenheil in die Waagschale werfen, um sie dazu zu überreden, den Schleier zu nehmen. Aber freiwillig würde sie nicht ins Kloster gehen. Nein. Dann lieber einen Mann heiraten, den ihr Vater für sie erwählte.
Aber bloß nicht den duftenden Höfling.
Dann doch lieber das Kloster.
Aber nicht das auf Rolandswerth.
Mürrisch legte Engelin die Stirn an die kühlen Scheiben.
Gestern Abend war es ihr klargeworden, dass Hardo seine eigene Geschichte erzählte. Seine und die ihre.
Natürlich hatte sie ihn bereits am ersten Abend erkannt, als er auf den Stufen vor der Hohen Tafel Platz genommen hatte. Es war eine entsetzliche Prüfung gewesen, stillzusitzen und sich nichts anmerken zu lassen. Erst hatte sie tatsächlich geglaubt, er würde einfach nur eine kindische Mär erzählen, aber als er dann die magische Laute erwähnte, hatte sie zu ahnen begonnen, dass er mit dem dummen Tölpel sich selbst schilderte.
Warum tat er das?
Um sie zu kränken? Zu demütigen? Auf ihren Platz zu weisen? Ein hinterhältiges Spiel mit ihr zu treiben?
Weil sie ihm so lästig war?
War er denn so nachtragend?
Das war ihr früher nicht aufgefallen. Aber er hatte sich verändert, und in ihm steckte eine gewisse Boshaftigkeit. Oder war es Härte?
Einst war er ihr Held gewesen. Doch sie war noch ein Kind und hatte ihn angehimmelt. Das war doch wohl verständlich, oder? Er wusste so viel über die Wälder, die Tiere, die Früchte, das Wetter. Er hatte ihr ein Leben in Freiheit und Ungebundenheit gezeigt. Er war ihr stark und mutig erschienen.
Und ja, sie hatte, genau wie in dem Lied, manchmal, wenn er schlief, sein Gesicht gestreichelt. Doch wenn es Tag wurde, dann hatte sie sich um Haltung bemüht, seinen Brei anbrennen lassen und ihn ausgezankt.
Deswegen hatte er sie weggeschickt, im Kloster abgeladen wie einen Sack fauliger Spelzen.
Sie schluckte die Bitterkeit hinunter und blickte wieder auf das regennasse Land. Heute wollte es aber auch gar nicht Tag werden. Dunkel und drohend hingen die Wolken über dem Rheintal.
Ihre Gedanken wanderten über seltsame Wege, während sie den Tropfen folgte, die an den runden Scheiben hinunterrannen. Wie oft musste sich der Junge, der er einst gewesen war, hier ebenfalls bedrückt und gefangen gefühlt haben. Er hatte sich selbst als Simpel geschildert, und man hatte ihn als Simpel behandelt. Aber er war nicht dumm. Was immer es Neues zu lernen gab, hatte er schnell gelernt. Zum Beispiel das Lesen.
Sie selbst hatte Lehrer gehabt, ihre Mutter war der Meinung, dass ein Weib seinem Mann eine Hilfe im täglichen Leben sein sollte, und da Kaufleute des Rechnens, Schreibens und Lesens kundig sein mussten, hatten sie und ihre Geschwister es beizeiten gelernt. Nicht in der Klosterschule allerdings, sondern von einem gutherzigen Magister, der sie nicht mit unverständlichen lateinischen Versen traktiert, sondern ihnen den Abakus erklärt und das ABC anhand eines Büchleins mit Bildern beigebracht hatte. Gelesen hatten sie allerlei Legenden, aber auch, vor allem als Puckl zu ihnen kam, Heldenmären und - ja, verflixt noch mal - auch die Verse der berühmten Dichter und Minnesänger.
Aber deren Sinn hatte sich ihr damals als Kind noch nicht erschlossen. Dazu musste sie erst von zu Hause ausreißen und sich einem dummen Tropf anschließen, der sie wie eine lästige Kröte behandelte.
Und sie jetzt als seine liebliche Herrin verspottete.
»Engelin, was machst du denn da am Fenster?«, kam es verschlafen vom Alkoven her.
»Tropfen zählen, was sonst.«
»Es ist noch dunkel, komm wieder zu Bett.«
»Es ist schon Tag, aber hell will es heute nicht werden.«
Casta drehte sich zur Wand und schnaufte.
Na gut, sie war auch träge und lustlos. Nein, eigentlich unglücklich. Wieder verfolgte sie die Regentropfen an den Butzenscheiben und geriet dabei ins Träumen.
Sie hatte sich geborgen gefühlt in den Armen dieses ungelenken jungen Mannes, damals, am Herd der Witwe. In jenen Tagen hatte er sie auch oft geneckt oder mit ihr gezankt, aber es hatte ihr nie wehgetan. Es tat erst jetzt weh.
Er war kein ungelenker junger Mann mehr, Heilige Jungfrau, nein.
Wie er wohl reagieren würde, wenn sie jetzt zu ihm hinunterschliche und sich wieder in seine Arme schmiegte?
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