Das Steinbett
aktiver sein oder bei der Hausarbeit helfen könnte. Was sie damit meinte, hatte Lindell nie verstanden; die selbstauferlegte Fürsorglichkeit ihrer Mutter sah sie mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verachtung.
Das ganze Gerede, dachte sie, führt doch zu nichts. Monotonie und Schlendrian waren die Worte, die ihr in den Sinn kamen. Sie sah sich selber unzählige Male den gleichen Weg fahren.
Irgendwo an diesem Weg standen die Gewalttäter – Mörder, Dealer und Vergewaltiger – und sahen zu, wie sie und ihre Kollegen herumhasteten, sich Notizen machten, in Handys sprachen und miteinander diskutierten. Sie grinsten vermutlich, lachten höhnisch über die Phantasielosigkeit der Polizisten.
Nur selten bogen sie spontan von der Hauptstraße ab, nahmen eine wenig benutzte Abfahrt, um die sich bis zu diesem Augenblick niemand gekümmert hatte, und plötzlich kamen die Ermittlungen wieder in Schwung. Neue Landschaften und Menschen wurden sichtbar.
So müssen wir vorgehen. Das Unerwartete tun. Welche Abfahrt habe ich verpaßt, dachte sie, als sie sich bei Skärfälten auf die 55 Richtung Uppsala einordnete.
Sie fuhr schnell, viel zu schnell, und erreichte rasch die Stadt, aber sie bog nicht zum Polizeipräsidium ab, sondern fuhr weiter nach Rasbo.
Sie näherte sich Gabriella Marks Haus mit einem seltsamen, schwer definierbaren Gefühl im Bauch. Totes Land, ein totes Haus, ein verdorrter Gemüsegarten. Das Anwesen hatte nichts Idyllisches mehr, es kam ihr vielmehr so vor, als wären Grundstück und angrenzender Wald in Angst gehüllt.
Die Kohlpflanzen lagen in den Beeten. Zwei Tage Sonne hatten sie vertrocknen lassen. Tod führt zu Tod, dachte sie düster. Die Abdeckfenster blinkten. Was für einen Sinn hatte es, daß du dir die ganze Arbeit gemacht hast?
Lindell mied das steinerne Grab, den Steinhaufen, unter dem sie die Leiche gefunden hatten. Sie konnte die Vorstellung nicht abschütteln, daß Gabriella Mark noch immer dort lag.
Die Waldtauben gurrten. Lindell ging den Weg entlang. Am Rand des Grundstücks stand ein sehr alter Apfelbaum, und auf der Erde lagen Unmengen von Fallobst, die der alte Baum abgeworfen hatte. Sie hockte sich hin und hob einen Apfel auf.
Die Tauben ließen wieder ihren wehmütigen Ruf erklingen. Sie sind wenigstens ein Paar, dachte sie. Plötzlich hörte man ein leises Rascheln aus dem Wald, und Lindell richtete sich sofort wieder auf. Der Apfel fiel ihr aus der Hand. Ihre Sinne schärften sich, und sie trat einen Schritt näher an den groben Stamm heran.
Wieder hörte sie es rascheln. Lindell starrte zwischen die Tannen und Erlen. Für einen Moment glaubte sie etwas zu sehen, aber was es war, ließ sich nicht sagen. Die Angst packte sie. Sie versuchte ruhig zu atmen und blieb reglos stehen, von einem einzigen Wunsch erfüllt: nicht zu sterben wie Gabriella Mark.
Der Tag soll verflucht sein, an dem ich mich an der Polizeihochschule beworben habe, dachte sie. Ich will leben wie eine normale Frau, meine Zeit nicht mit Toten verbringen, in ihren Behausungen wühlen, über schwarze Erde wandeln. Ich will lieben, Leben um mich haben, ich will Kinder haben.
Schritte im Wald. Bewegungen zwischen den Zweigen. Die Tauben wurden lauter. Lindell drehte sich schnell um und sah zum Haus hinauf. Wo sollte sie Schutz suchen? War der Mörder zurückgekehrt? Gab es im Haus noch etwas von Bedeutung? Etwas, das sie übersehen hatten?
Sie überlegte, zurück zum Wagen zu laufen, konnte sich aber nicht vorstellen davonzurennen. Ob es nun der Mörder war oder nicht, ihre Aufgabe bestand darin, das, was da draußen vorging, zu registrieren. Ihre Angst mußte sie, so gut sie es vermochte, bezähmen.
Lindell preßte ihren Körper an den Stamm und lugte dahinter hervor, um eventuell einen Blick von dem zu erhaschen, der sich in dem dichten Unterholz bewegte.
Ein massiver Körper war zu erkennen. Ein Tier. Plötzlich trat eine Elchkuh aus dem Wald. Sie blähte ihre großen Nüstern und starrte mit vorstehenden Augen auf etwas Unbekanntes, von dem sie wußte, daß es dort irgendwo war. Sie war weniger als zehn Meter von Lindell entfernt. Nie zuvor war sie einem so großen Tier so nahe gewesen.
Die Elchkuh machte ein paar Schritte und sah sich um. Hinter ihr tauchte ein Elchkalb auf. Das muß das Kalb sein, von dem Gabriella Mark in ihrem Kalender geschrieben hat, dachte Lindell.
Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen. Der rechte Hinterlauf war verletzt. Eine offene und infizierte Wunde leuchtete
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