Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
musste er Rede und Antwort stehen.
Der spindeldürre Mann mit der Glatze trat aus der Gruppe auf Julius zu und räusperte sich. „Gestatten Sie, mein Name ist Leander Blauenstein. Ich bin Direktor der Modernen Galerie im Schloss Belvedere.“ Und mit einem Seitenblick auf den Direktor des Kunsthistorischen Museums fuhr er fort: „Also ein Kollege des geschätzten Dr. Kinsky.“
Kinsky stieß nur ein missbilligendes Grunzen aus und wandte den Blick ab. Hinter seiner Stirn schien ein Glutofen zu arbeiten. Der Kaiser schaute immer noch schweigend von seiner Bank aus auf die Vorstellung, die sich vor seinen Augen abspielte.
„Sie fragen sich sicher, was ein Betreuer der neuen Kunst zu dieser Angelegenheit zu sagen hat, Herr Pawalet“, sagte Blauenstein und lächelte Julius offen an.
Der Mann schien nicht im Geringsten hochmütig oder ablehnend zu sein. Im Gegenteil – seine Stimme war leise und höflich. „Lassen Sie mich Ihnen erklären“, fuhr er fort, „warum ich hier bin. Ich habe lange Jahre an der Akademie der bildenden Künste die Lehrmittelsammlung betreut und dort als Restaurator für alte Gemälde gearbeitet. Ich darf also behaupten, dass ich in Bezug auf Ihre … nun, Vermutungen ein kundiger Ansprechpartner bin. Seine Majestät hat sich aus diesem Grund erlaubt, mich als unabhängigen Fachmann zu dieser … sagen wir, Untersuchung hinzuzuziehen. Ich möchte Sie bitten, mich über Ihre Beobachtungen ins Bild zu setzen, Herr Pawalet.“
Der Museumsdirektor des jüngsten Museums Wiens legte seine Fingerspitzen aneinander und lächelte Julius aufmunternd zu. Der warf einen fragenden Seitenblick auf Leutnant Tscherba. Dessen Mund war zu einem missbilligenden Strich zusammengepresst, dass der Direktor einen Sträfling so ungewöhnlich zuvorkommend behandelte. Julius sah fragend in das freundliche Gesicht des Mannes und wusste nicht, was er sagen sollte.
Kinsky konnte seine Ungeduld nicht länger zügeln und rang die Hände über dem Kopf.
„Bei allem gebotenen Respekt, Eure Majestät! Das erscheint mir doch zu sehr wie ein albernes Theater.“ Er wedelte mit der Hand zu Julius hinüber. „Einen Straftäter hier ins Museum zu lassen. Und außerdem – Herr Blauenstein ist Secessionist! Er betreut die Sammlung der modernen Künstler! Ich bezweifle doch sehr, dass er in unserer Sache etwas zu sagen hat. Hat er denn überhaupt die nötige Kompetenz, die Alten Meister zu beurteilen?“ Seiner Stimme war die Missbilligung über die neuen Strömungen der Künstlergruppe um Gustav Klimt anzuhören.
Julius freute sich über das nachsichtige Lächeln Blauensteins, der fragend zum Kaiser sah. Franz Joseph murmelte etwas, das klang wie: Fahren Sie fort, Blauenstein , und besah sich weiter die Bilder ringsum. Er sah merkwürdig unbeteiligt aus. Er wird doch nicht etwa nur hier sein, weil er denkt, es sei seine Pflicht, wunderte sich Julius.
Blauenstein deutete eine kleine Verbeugung in Richtung Kinsky an und flötete: „Lieber Kollege, wenn diese Angelegenheit geklärt ist, können wir uns gern über Kunst unterhalten. Aber nun möchte ich Sie bitten, abzuwarten und Herrn Pawalet nicht aus dem Konzept zu bringen.“
Warum ist der so nett zu mir, fragte sich Julius. Der auffordernde Blick des Mannes half Julius’, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Sollte er tatsächlich vor all diesen Männern sprechen? Er räusperte sich krampfhaft.
Der Kaiser schaute auf und verschränkte die Hände vor der Brust. Sein Blick ruhte abwartend und ohne sichtbare Regung auf dem Mann in Gefängniskleidung. Julius hob die Hand und wies auf die Tür zum angrenzenden Saal. „Sehen Sie diesen leeren Fleck an der Wand?“
Alle wandten den Kopf. Nur Kinsky starrte mit wutverzerrtem Gesicht Julius an und mahlte mit den Kiefern.
„Hier hängt normalerweise Das Haupt der Medusa von Peter Paul Rubens. Fragen Sie Herrn Direktor Kinsky, wo das Bild jetzt ist.“
Die Aufforderung war an niemand Bestimmten gerichtet, doch im nächsten Moment wandten sich alle Gesichter dem Direktor zu. Stumme Fragen schossen durch den Raum. Kinsky fuchtelte verärgert mit den Händen.
„Na, wo wird es wohl sein, wenn es nicht hier ist!“, sagte er barsch. „Es wird restauriert, natürlich! Der große Besucheransturm vor einigen Wochen hat dem Bild zugesetzt. Und es ist auch schon Jahrzehnte her, seit es gereinigt wurde.”
„Und jetzt fragen Sie ihn, wer im Kunsthistorischen Museum für die Restaurierungen zuständig ist“, forderte Julius
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