Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
sich über das erregte Atmen gewundert. Doch nichts dergleichen war möglich, denn in dieser Nacht standen alle Elemente, alle Zufälle und Möglichkeiten im Dienst eines großen Künstlers. Die Dunkelheit hielt dicht wie eine Bande verschworener Diebe. Kein Lichtstrahl verirrte sich zu der Szenerie. Kein Mensch kam die Gasse entlang. Es schien, als wäre alles Leben umgelenkt worden, fort vom Schauplatz einer großen Vision. Dann war es still. Der Künstler wartete auf das Licht.
Wie auf das Signal eines überirdischen Dirigenten brach die Wolkendecke auf, und der pralle, kalte Vollmond schleuderte sein fahles Licht zwischen die Hauswände. Die Kraft des Mondes, der schon immer der Komplize aller heimlichen Mörder gewesen war, vollendete den letzten Feinschliff an diesem nächtlichen Meisterwerk. Und wieder fehlte ein feines Ohr, das an dem dunklen Durchgang gelauscht und sich über ein sehr merkwürdiges Geräusch gewundert hätte. In der hallenden Stille der Häuserschluchten erklang ein Sirren. Ein pfeifendes Peitschen in der Luft. Ein stumpfes Reißen von etwas Weichem. Niemand hätte dieses Geräusch einordnen können, denn es kam aus einer längst vergangenen Zeit. Es ertönte genau fünfzehn Mal.
V
Louis Kranzer, der Leiter der Saaldienerschaft des Kunsthistorischen Museums, wunderte sich wieder einmal, was für abgerissenen, traurigen Gestalten sein Vorgesetzter Kinsky eine Anstellung gab. Er senkte den Kopf, als er sah, wie die nagelneue Uniform an dem Neuen schlackerte. Der Portier, Prohaska, hatte hinter der Glasscheibe seiner Loge missbilligend den Kopf geschüttelt, als Kranzer den Neuen seinen Arbeitsvertrag unterschreiben ließ. Draußen dämmerte der Morgen.
„Lassen S’ sich vom Logenbruder nicht ärgern. Der wär am liebsten Friedhofswärter, da müsst er sich nicht so mit den Lebendigen abplagen. Das kann er nämlich nicht besonders gut, wie S’ gesehen haben“, sagte er zu Julius Pawalet, als sie gemeinsam die gigantische Prunkstiege hinaufgingen. Er starrte irritiert auf den hektisch pumpenden Brustkorb Pawalets, der bereits auf dem Treppenabsatz stehen blieb und sich nach Atem ringend die bunten Deckenfresken ansah. Der junge Mann sah aus, als gehörte er in ein Sanatorium. Kranzer bemerkte, dass Pawalet einen verstohlenen Blick auf seinen breiten Brustkorb warf, über dem sich die Uniform spannte.
„Waren Sie früher Muskelprotz im Varieté?“, fragte der Neue doch tatsächlich und grinste Kranzer jungenhaft an. Auch wenn der diese Frage äußerst unverschämt fand, fühlte er sich doch geschmeichelt. „Ich helf meinem Schwager ab und an in seiner Brauerei aus. Fässer schleppen und all so was“, log er. Er führte den Neuen in den Saal gleich links von der großen Prunkstiege, über dessen Tür die Nummer IX prangte und der die deutsche Malereischule beherbergte. Er wollte schon seinen Rundgang antreten, als Pawalet zielstrebig auf ein winziges Bild zutrat. Kranzer blickte zu Pawalet. Das Bild hing wie eingekerkert zwischen den wuchtigen Rahmen größerer Gemälde ringsum. Pawalet stand davor und starrte es mit einer Mischung aus Überraschung und Freude an.
Kranzer runzelte die Brauen. Er trat neben ihn und ging mit der Nase ganz nah an das Bild heran.
„An dem bin ich bis jetzt immer vorbeigegangen. Ist ja auch eher was fürs Puppenstuberl, nicht?“ Er fand das Bild ziemlich unspektakulär und fragte sich, wer sich für so einen Kram interessieren konnte, wenn ein paar Säle weiter die tollen Schinken von Rubens und Rembrandt hingen. Das hier war nur wieder eine der ewig gleichen Szenen mit Maria und dem Jesuskind und einem Haufen Trauben und einem einsamen Joseph im Hintergrund, der seine göttliche Familie betrachtete. Aber Pawalet schien völlig hingerissen zu sein von dem Bildchen.
„Wer hat das denn gemalt?“, wollte Kranzer wissen. Auf dem Rahmen gab es kein kleines angelaufenes Messingschild, auf dem der Name des Malers gestanden hätte.
„Martin Schongauer“, sagte Julius Pawalet.
In diesem Moment begann eine kleine Glocke in Kranzers Kopf zu läuten.
„Woher … äh, wissen S’ das denn?“, fragte er den Neuen erstaunt.
„Das … ich … ich habe in der Zeitung mal etwas über dieses Bild gelesen“, antwortete Pawalet ausweichend.
„Aha, na, dann weiß ich das jetzt also auch.“ Kranzer setzte sich wieder in Bewegung. Woher wusste ein Hungerleider wie der Neue, was ein alter Maler namens Schongauer gemalt hatte?
Es war der Freitag vor dem ersten
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