Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Advent, und niemand vergeudete seine Zeit im Museum. Die Geschäfte auf dem Ring nahmen allmählich die Anstürme der Weihnachtseinkäufer auf. Nur eine Klasse der Akademie kam ihnen entgegen, deren Professor mit wichtiger Miene durch die Säle schritt. Ein paar alte gelangweilte Männer kreuzten ihren Weg und eine französische Gouvernante mit zwei kleinen Kindern.
Er führte Julius Pawalet durch die zwei Säle mit deutschen Gemälden und zeigte ihm die dahinterliegenden Kabinette, die an der Fensterseite lagen und wesentlich kleiner waren als die Säle. Dann bogen sie in den Flügel ein, der die zahlreichen niederländischen Künstler beherbergte.
„Wir kommen jetzt in den Rubens-Saal“, sagte Kranzer. „Und da drin lernen S’ auch unseren Stammgast kennen, den Herrn Otto Grimminger. Er ist Kopist und kommt schon seit vielen Jahren jeden Tag hier ins Museum. Ist ein wahrer, echter Meister, müssen S’ wissen.“
Sie betraten den Rubens-Saal, doch anstatt interessiert auf den arbeitenden Mann in der Mitte des Saals zuzulaufen, blieb Julius Pawalet wieder stehen. Mit einem erschrockenen Ausdruck im Gesicht starrte er Otto Grimminger an.
Oder war es die fast vollendete Kopie von diesem Schlangenweib, auf die Pawalet schaute?
Kranzer wusste nicht, wie das Gemälde hieß, das Otto Grimminger schon seit Monaten kopierte. Er wusste nur, dass er es nicht leiden konnte. Er fand es widerlich und grauenerregend. Dieser totenbleiche abgeschlagene Kopf mit dem blutig roten Halsstumpf. Und dann die wimmelnden, sich windenden Schlangen und Eidechsen überall. Aber am schlimmsten waren die aufgerissenen, schreckensstarren Augen der Frau, der der Kopf abgeschlagen worden war. Kranzer fragte sich, warum Grimminger ausgerechnet dieses hässliche Bild kopierte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Hatte der seltsame alte Maler ihm nicht einmal verraten, um wen es sich bei dem Schlangenweib handelte? Er überlegte eine Weile, und schließlich brachte ihn Pawalets versteinerter Anblick darauf. Ja, natürlich! Das bedauernswerte Weib war irgendeine Gestalt aus der Mythologie, die alle in Stein verwandelte, die sie ansahen. Ihren Namen hatte Kranzer vergessen.
Kranzer sah, dass Pawalet mit seinen Gedanken sehr weit weg war. Er schien in einer fernen Erinnerung zu verweilen. Er räusperte sich und sagte: „Bitte erschrecken Sie nicht, Herr Grimminger!“ Dann nahm er Pawalet am Arm und führte ihn zu der Staffelei. Grimminger hielt einen Augenblick inne, ließ Pinsel und Palette sinken und sah ihnen entgegen.
„Ich wollt’ Ihnen nur kurz unseren neuen Saaldiener vorstellen. Das ist der Herr Julius Pawalet, der Sohn unseres alten Kollegen.“
Grimminger legte den Pinsel langsam auf die kleine Ablage unter der Staffelei und hob die Rechte ganz langsam zu dem Neuen hoch, als hätte er Schmerzen im Arm. Er trug eine Brille mit Gläsern, die so dick waren wie die Butzenscheiben eines Lokals beim Heurigen. Mit eulenhafter Eindringlichkeit sah er Julius Pawalet an, räusperte sich ausgiebig und sagte: „Ah, ich habe mich schon gefragt, ob Sie tatsächlich kommen würden, Herr Pawalet.“
„Wie bitte?“, fragte Pawalet.
„Nun, wenn man so viele Jahre hier verbringt, kommt man nicht umhin, so eine Art Freundschaft zu knüpfen oder zumindest eine Komplizenschaft“, er stieß ein hohles Lachen aus, „und da hat mir Ihr Vater versprochen, einen Nachfolger zu schicken, der ein bisschen auf mich aufpasst …“
Grimminger senkte den Kopf und starrte in das feucht glänzende Relief der Ölfarben auf seiner Palette. Kranzer räusperte sich erneut. „Gehen wir doch weiter, Herr Pawalet.“
„Ich hoffe, Sie bekommen keine Kopfschmerzen von dem Geruch der Farbe!“, sagte Grimminger.
„Ähm … nein, ich denke nicht“, erwiderte Pawalet.
„Na dann, auf eine gute, friedliche und vor allem … stille Zusammenarbeit.“ Grimminger ergriff seinen Pinsel wieder und erklärte damit das Gespräch für beendet.
Kranzer schob Pawalet rasch an ihm vorbei, durchquerte mit ihm die beiden nächsten Säle und setzte sich dann auf eine der blauen Samtbänke, die in einer Art Rondell aufgestellt waren, so dass man von dort alle Wände im Blick haben konnte.
„Passen S’ auf den Grimminger auf. Der hat hier gewisse Privilegien“, sagte Kranzer.
„Warum kopiert er Bilder?“, wollte Pawalet wissen.
„Warum? Das tun doch alle. Die Studenten von der Akademie kopieren, um die verschiedenen Techniken zu lernen. Die kommen für ein paar Monate
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