Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
habe?“
„Die in der Kiste auf deinem Regal?“
„Ja, genau die. Ich hab dir doch erzählt, dass es die gleichen Bilder in groß gibt und dass sie alle dem Kaiser gehören.“
„Und der Kaiser zeigt sie uns? Wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Wenig später trug er Julius durch das Meer von Zylindern und Hüten der Besucher auf den Schultern, damit der die Gemälde besser sehen konnte.
Julius legte den Kopf in den Nacken und hielt den Atem an. Er hatte noch nie etwas so Schönes gesehen. Er wusste von seinem Vater, dass die Hofburg und das Schönbrunner Schloss üppig und prachtvoll eingerichtet waren. Aber seine Augen kannten nur das wurmstichige Holz in der Dachschräge über seinem Bett, kannten nur die schmutzigen Straßen am Spittelberg und das finstere, muffige Treppenhaus, das zu ihrer Behausung hinaufführte. Und im ersten Moment glaubte er, er müsse verrückt werden oder in Tränen ausbrechen. An der gewölbten Decke im Stiegenhaus schwebten Menschen auf Wolken. Überall war Gold und strahlendes Weiß. Als sie oben waren, führte der Vater ihn in einen weiteren Saal, in dem helles Licht durch die Decke fiel. Ungläubig starrte Julius in ein bekanntes Gesicht. Das Gesicht eines Toten.
„Schau, das ist der kleine spanische Prinz, der so früh gestorben ist“, sagte der Vater und zeigte auf das Velazquez-Gemälde, das sie in der zerfledderten Ausgabe eines billigen Kunstdrucks besessen hatten. Auf den Schultern des Vaters wurde Julius nun durch eine Welt getragen, die ihn verzauberte. An den Wänden hingen riesige wunderschöne Bilder in goldenen Rahmen. In der Mitte der Räume standen Vitrinen, in denen geheimnisvolle Gegenstände schimmerten. Verzauberte Menschen standen vor den Gemälden, wiesen einander auf irgendetwas hin, was sie in dieser ölig glänzenden Welt entdeckt hatten. Winzige Figuren, Engel, herrliche Gewänder, geheimnisvoll strahlende Frauen. Wie auf einem Schiff glitt Julius durch die hohen Räume und betrachtete, verwirrt von all der Pracht, ein Bild nach dem anderen. Sein Vater hielt immer wieder inne und erklärte ihm die prunkvollen Szenen. Julius streckte die Hand aus. Er wollte den Samt berühren, der die Körper in den Rahmen einhüllte, er wollte die weißen, weichen Gesichter befühlen. Doch der Vater stieß seine Hand weg und sagte: „Nicht anfassen. Die hacken dir die Hand ab, wenn du sie anfasst.“
Das war der schöne Teil der Erinnerung. Der andere Teil war der Grund, warum der Kopist Otto Grimminger für ihn ein böser Magier war, ein dunkler Zauberer mit Fähigkeiten, die niemandem zustanden.
Eine scheinbare Ewigkeit schwebte Julius durch das Museum und konnte sich nicht sattsehen. Sie gelangten in einen Saal, in dem sich besonders viele Menschen drängten. Ein ehrfürchtig gerauntes Wort hörte er immer und immer wieder: Rubens . Als er sich umsah, entdeckte er ein Bild an der Wand, und er presste die Knie erschrocken gegen den Hals des Vaters. Auf dem Bild lag ein blutiger Kopf in todesbleicher Starre, umwimmelt von unzähligen Schlangen. Zwei steinerne, ungläubige Augen blickten nach unten zu dem blutigen Stumpf. Gleich neben dem Gesicht wanden sich zwei kleinere Schlangen umeinander, und die eine biss der anderen in den Kopf.
Julius bekam solche Angst vor dem Bild, dass er zu wimmern anfing. Er hatte noch die mitleidigen Blicke der Besucher in Erinnerung und das ungeduldige, verächtliche Schimpfen seines Vaters. Dann war ein hohläugiger Mann neben das Bild getreten und hatte irgendetwas getan, irgendetwas Unbegreifliches, das Entsetzen auslöste. Er erinnerte sich an schreiende Menschen, wütende Gesichter und an einen Tumult. Dann riss das Bild ab. Und die glasklare, schmerzhafte Erkenntnis erfasste ihn, dass der alte Schreck ihm nach 15 Jahren immer noch in den Gliedern steckte.
Julius schüttelte das unangenehme Gefühl ab und fragte sich, wie sein erster Arbeitstag noch verlaufen würde. In der Eingangshalle nahm eine weitere Akademieklasse Aufstellung und wartete auf ihren Professor. In diesem Augenblick wurde die große Tür mit lautem Knarren aufgedrückt, und Prohaska steckte neugierig den Kopf aus der Loge.
Es war Inspektor Lischka, der mit knallenden Schritten auf Julius zuging, ihn am Arm packte und zischte: „Mitkommen.“
Lischka sah heute aus wie ein Mann, dessen Zweifel und Ahnungen sich über Nacht verdichtet und in reinen, kalten Tatendrang verwandelt hatten. Seine glattrasierten Wangen wirkten hart wie Porzellan, und in seinen
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