Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
gestern noch so aufmerksamen, freundlichen Augen lag ein unbarmherziger Zug.
„Moment mal, was ist denn los?“ Julius wollte sich aus dem Griff des anderen losreißen.
Die Akademieklasse verstummte und starrte zu ihnen herüber. „Wir müssen reden, Pawalet. Sofort!“, herrschte Lischka ihn an. Der ganze Mann war ein Befehl. Rasch führte er Julius an dem zufrieden nickenden Prohaska vorbei und fort von den bohrenden Blicken der Museumsbesucher.
Vor dem Gebäude flatterte ein Schwarm Tauben auf, als Lischkas Schuhe den Kies knirschen ließen.
„Was soll das, Inspektor? Machen Sie das immer so, wenn Sie jemanden sprechen wollen? Ihn am Arbeitsplatz aufsuchen und dastehen lassen wie einen Verbrecher?“
Lischka sagte nichts, schaute nur grimmig auf den Boden und strebte auf die Kreuzung am Getreidemarkt zu. Dort hielt er einen Fiaker an und öffnete Julius die Tür.
„In die Kastnergasse, bittschön!“, rief er dem Kutscher zu. Dann schob er Julius in das dämmrige Innere der Kabine, stieg selbst ein, setzte sich Julius gegenüber und schlug die Tür zu. Durch den plötzlichen Ruck beim Anfahren wurde Julius in die ledernen Polster gedrückt. Er war noch nie zuvor in einem Mietfiaker gesessen und spürte nun zum ersten Mal das holprige Kopfsteinpflaster gedämpft durch gummierte Wagenräder unter sich. Durch die gelblichen Scheiben fiel nur wenig Licht. Lischkas Knie drückte gegen ihn. Er roch nach Kampfer und ganz leicht nach einem erst kürzlich heruntergestürzten Kaffee.
„Wieso fahren wir in die Kastnergasse?“
„Raten Sie mal, wer da gewohnt hat?“
„Mein Vater?“
„Ganz recht“, knurrte Lischka knapp.
„Was soll das? Und warum schleifen Sie mich mit wie einen Gauner, Herrgott! Wollen Sie, dass ich wieder arbeitslos werde?“
Lischka presste die Lippen zu einem schmalen Schlitz aufeinander. Julius sah, dass ihm irgendetwas sehr unangenehm war.
„Ich sehe schon – Diskretion ist nichts für einen Kiberer wie Sie!“
„Es tut mir leid, Pawalet!“, presste der Inspektor hervor. „Der Eifer ist mit mir durchgegangen. Aber wenn Sie gleich sehen, was ich gesehen habe, dann werden Sie’s verstehen. Oder wissen Sie bereits, was passiert ist?“
Er sah Pawalet lauernd an, wie eine Katze, die in ein Mauseloch starrt, wohlwissend, dass dort der zitternde Nager hockt.
„Ich habe keine Ahnung, was Sie von mir wollen!“, zischte Julius ihn an.
„Nein? Dann riechen Sie mal. Riechen Sie nichts?“
Julius schnüffelte. Durch den Geruch von durchgesessenem Leder und Holz in der Kabine drang etwas Scharfes. Verkohltes. Rauch. Kurz darauf hielt der Fiaker an der Einmündung zur Kastnergasse, und er sah es. Zwischen den sauberen, hellen Zinshäusern klaffte eine Brandruine wie ein ausgeschlagener Zahn. Kohlschwarze Wände, leere Fensterhöhlen und unzählige Rauchsäulen erhoben sich hinter einer gaffenden Menschenmenge und einem Dutzend Feuerwehrmänner, die mit einer Druckspritze versuchten, zu retten, was nicht mehr zu retten war. Lischka schob Pawalet wortlos aus der Kutsche. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Nachbarhauses, und zwei Sanitäter der Rettungsgesellschaft kamen mit einer Trage heraus, auf der eine hustende alte Frau lag. Auf dem Trottoir kümmerte sich ein Arzt um zwei junge Leute, die mit rauchgeschwärzten Gesichtern nach Luft rangen. Dann schob sich ein Leichenwagen an ihnen vorbei. Julius fing an zu zittern. „Was …?“
„Vorläufige Bilanz, mein Lieber – drei Tote und mehrere Leute mit Rauchvergiftung. Das Feuer ist wohl heute Morgen gegen neun im hinteren Teil des Hauses ausgebrochen. Der Feuerwehrhauptmann ist sich sicher, dass eine brandbeschleunigende Flüssigkeit verwendet wurde. Im dritten Stock, ganz nebenbei bemerkt. Dort lag ja die Wohnung eines gewissen Joseph … Joseph – na, wie hieß er doch gleich mit Nachnamen …?“
„Die Wohnung meines Vaters …“, flüsterte Julius.
„Ja, ganz genau. Und der Zeitpunkt ist ja wohl mehr als verdächtig. Gestern noch ging es um den Brief, den Sie verschwinden ließen, und heute liegt alles, was dieser Mann je besessen hat, in Schutt und Asche. Finden Sie das nicht auch merkwürdig, Pawalet?“
„Aber …“
„Nun fragen Sie sich natürlich, wie es dazu kam. Sagen Sie es mir.“
„Sie glauben doch nicht etwa, dass ich … nein, das können Sie mir nicht anhängen!“ Julius machte Anstalten, auszusteigen.
Mit festem Griff schob Lischka Julius zurück in den Fiaker und gab dem Kutscher ein
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