Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
zu essen. Er hörte noch ein leises: „Wehe du beißt ein Loch hinein!“, von oben, dann gab er sich keuchend und schmatzend seinem Genuss hin. Er schlürfte und leckte so lange, bis Luises Strümpfe nur noch feucht glänzten und der Teller leer war. Erschöpft streichelte er ihre Schienbeine und murmelte immer wieder: „Danke, Herrin … vielen Dank, mein Liebes … danke … danke …“ Dann schlief er unter der Tischdecke ein, glücklich wie ein kleiner Junge, während über ihm das Hausmädchen das Mittagsmahl abtrug.
VII
Es gab nichts, was Inspektor Lischka mehr hasste als einen schweren Fall, den er wegen eines noch schwereren Falles ruhen lassen musste. Als er mit seinem Assistenten Schindl in der Gutenberggasse ankam, überkam ihn die Gewissheit, dass er den Tod von Joseph Pawalet nicht weiter untersuchen konnte.
Als Rudolph Lischka begriff, was in der vergangenen Nacht geschehen war, fühlte er sich, als wären ihm alle Zähne auf einmal gezogen worden. Sein Assistent Schindl, der sich bei schweren Fällen manchmal übergeben musste, stand neben ihm wie eine Eisskulptur, nachdem er und andere Gendarmen vor einer Stunde von einem Gassenjungen zu der grausigen Entdeckung geführt worden waren.
Ein Polizeifotograf, der sich nicht um die Anwesenheit des Inspektors kümmerte, schwängerte die Luft des schäbigen Hinterhofs mit Magnesiumpulver. Es blitzte, und das grelle Licht hüllte die Gestalt vor ihnen in ein groteskes, eisiges Licht.
Der Mann war an einen freistehenden Pfeiler unter dem Tordurchgang gefesselt. Die Blitze erhellten das Dämmerlicht in der Passage, so dass Lischka jedes Detail genau erfasste. Jemand musste einen unbändigen Hass auf den armen Teufel vor ihm gehabt haben. Das Schlimmste waren nicht die vielen Wunden und das Blut, das die Leiche überzog wie ein rostiger Vorhang. Das Schlimmste war die archaische Art, mit der man den Körper ins Jenseits geschickt hatte. Er war nackt, bis auf ein Tuch, das wie bei den Christusdarstellungen um die Lenden geschlungen war. Seine Füße waren mit einem festen Seil an den Steinpfeiler gebunden worden, ebenso die Hände. Die Schutzlosigkeit des Körpers erschütterte Lischka. Er dachte an eine menschliche Zielscheibe. Dann begann er zu zählen.
Es waren 15 Pfeile, die da aus dem farblosen Fleisch ragten. Auch seitlich in der Wade und im Hals des Mannes steckte ein Pfeil. Lischka schnippte vorsichtig gegen einen Pfeilschaft. Der wippte leicht hin und her wie der Schwanz einer Libelle.
„Sind das gewöhnliche Pfeile?“, fragte er, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
„Sie sehen selbstgeschnitzt aus“, sagte Schindl. „So dünne Pfeile gibt es wahrscheinlich nicht zu kaufen.“
„Wer ist der Mann?“, wollte Lischka wissen.
„Die Anwohner werden noch befragt“, verkündete Schindl.
Der Polizeifotograf hatte aufgehört zu blitzen. Ein leises Tropfen war zu hören. Die Wände in der düsteren Passage rochen nach Moos, und Lischka verfiel in eine seltsam traumartige Stimmung. Er hatte plötzlich das Gefühl, als wäre er an einem Ort unter Wasser, wo die Gesetze, die er kannte, nicht galten. Das klägliche Tropfen wuchs an zu einem Platschen, das ihm in den Ohren dröhnte. Und auf einmal hatte der Inspektor Angst, dass aus irgendeiner dunklen, feuchten Ecke eine kleine Giftschlange kriechen könnte. Hatte sie ihn vielleicht schon gebissen und gelähmt mit ihrem Gift? Er schüttelte hastig den Kopf und starrte den Leichnam an. Da wusste er es plötzlich.
In diesem Moment überfiel es ihn mit schmerzhafter Klarheit. Inspektor Lischka wusste plötzlich, dass der Mörder, der in der vergangenen Nacht den Bogen gegen diesen nackten Körper gespannt hatte, sein Geschick im Umgang mit einer giftigen Schlange beweisen konnte.
Angst – das war etwas, was Rudolph Lischka normalerweise nicht kannte. Zum ersten Mal hatte er Angst empfunden, als ein Arzt kopfschüttelnd aus dem Zimmer von Charlotte gekommen war. Das war jetzt viele Jahre her. Doch nun überfiel ihn dasselbe Gefühl von stumpfer Machtlosigkeit und von einem Wahnsinn, der dahinter lauerte. Inspektor Lischka spürte die Nähe zu diesem Wahnsinn, immer wenn ihm etwas widerfuhr, was er nicht verstand. Er hatte nie verstanden, warum Charlotte sterben musste, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Die höhere Logik dahinter war ihm verschlossen, und er hätte damals fast aufgestampft wie ein wütender, verschreckter Bub.
„Wir müssen uns auf einen Serienmörder
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