Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
dem Tisch verbreitete den Geruch eines sommerlichen Gartens bei Nacht, und nun drang auch das scharfe Aroma des verschneiten Winterabends in den Salon. Was taten sie hier?, dachte Julius. Was für ein grausamer und zugleich wunderbarer Zufall hatte ihn und den Inspektor hierhergeführt?
„Was ist das hier eigentlich für eine Wohnung?“, fragte Lischka. „Wo ist der Ehemann?“
„Vielleicht weiß der Hofrat nichts davon“, sagte Julius. „Als ich das letzte Mal hier war, ist Luise von Schattenbach wie aus dem Nichts aufgetaucht. Vielleicht gibt es hier eine geheime Tapetentür oder so etwas Ähnliches.“
Lischka trat zur gegenüberliegenden Wand, anscheinend, um sie zu untersuchen, als ein gedämpfter Knall ertönte. Colette zuckte zusammen. Sie hob den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. Kurze Zeit später hörten sie deutlich, wie jemand auf der anderen Seite der Wand herumging. Harte Schritte auf knarrenden Holzdielen. Ein dumpfes, schabendes Geräusch, so als wenn ein schwerer Gegenstand verschoben würde, und Julius erstarrte. Gleich würde die Tapetentür aufgehen, und ein wütender Hofrat würde sie zusammen mit seiner nackten Gemahlin erwischen.
„Was soll das?“, fragte Lischka, doch Colette sprang auf und wisperte: „Schscht. Seien leise. Mann darf uns nicht hören.“
„Was für ein Mann? Ist das der Hofrat?“
Colette nickte mit besorgtem Gesicht und legte den Finger auf die Lippen.
„Aber was hat das zu bedeuten? Der Herr Hofrat hat wohl keine Ahnung vom Zeitvertreib seiner werten Gattin!“, spottete Lischka und warf einen verständnislosen Blick auf die Utensilien in den Truhen, die man zu dieser Zeit nur auf illegalen Fotografien aus der untersten Schublade eines zwielichtigen Postkartenverkäufers finden konnte.
In diesem Moment sprang Colette auf und floh aus dem Salon. Julius hörte, wie eine Tür verriegelt wurde, und ihm fiel wieder ein, dass Luise ihre schwarze Dienerin vor dem Hofrat geheim gehalten hatte.
Die schweren Schritte ertönten jetzt ganz dicht hinter der Wand. Ohne Zweifel – hier musste es einen geheimen Zugang geben, von dem nur Luise von Schattenbach etwas wusste. Daher auch der separate Eingang.
Doch im nächsten Moment öffnete sich eine Tür in der Wand. Lischka packte Julius am Arm. Der Hofrat stand plötzlich vor ihnen, doch der Inspektor entspannte sich augenblicklich. Er meinte wahrscheinlich, dass von einem Mann mit derartiger Leibesfülle keine Gefahr ausgehen sollte.
„Was ist hier los?!“, rief der Hofrat. „Ich habe einen Schrei gehört!“ Dann fiel sein Blick auf die immer noch bewusstlose Luise. „Was haben Sie mit meiner Frau gemacht?“
Er stürzte erstaunlich schnell zu dem Sofa, auf dem Luise halb aufrecht lehnte. Auf dem Gesicht des Hofrats erschien ein ganz eigenartiger Ausdruck, als er den entblößten Körper seiner Gattin sah. Als wäre er hin- und hergerissen zwischen überraschter Erregung wegen ihrer Nacktheit und dem Schrecken über ihre leichenblasse Haut. Er fasste Luises Hand. Sie war immer noch in tiefer Betäubung und warf den Kopf hin und her. Es versetzte Julius einen Stich, diese schöne, erhabene Frau so hilflos und elend zu sehen.
Und plötzlich fiel ihm auch noch etwas anderes auf, das er nicht sogleich zuordnen konnte. Es war, als sei an dem Bild von Luises Körper etwas falsch, nachdem der Hofrat zu ihr getreten war. Irgendetwas verwirrte ihn, als wäre ihm nachträglich etwas eingefallen, was er nun aber nicht mehr nachvollziehen konnte. Der Hofrat tat nun das, was Lischka und Julius versäumt hatten. Er breitete eine dünne Decke über seine entblößte Frau.
„Was ist hier los?“, polterte er.
„Es scheint fast so, als gäbe es im Bekanntenkreis Ihrer werten Gattin jemanden, der zurzeit vom gesamten Wiener Polizeiapparat gesucht wird“, verkündete Lischka trocken.
„Was soll das heißen?“ Der Hofrat sah Lischka nicht an, sondern tätschelte Luise die Wange. „Liebes, was ist mit dir? Wach auf … so mach doch die Augen auf!“ In seine fleischigen Züge schlich sich tiefe Besorgnis.
So abstoßend die Erscheinung des Hofrats auch sein mochte, so rührend fand Julius seine Sorge um sie. Viktor von Schattenbach war für ihn auf den ersten Blick ein undurchsichtiger, unangenehmer Mensch, doch eins war sicher: Er liebte Luise abgöttisch.
„Haben Sie das zu verantworten?“, schrie der Hofrat unvermittelt und starrte Julius und Lischka mit bebender Unterlippe an.
„Nein, gewiss nicht“,
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