Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
für die kaiserliche Zurückweisung?“, fragte Julius.
„Genau. Er hat auf dieses Bild uriniert und es angespuckt und wurde von zwei Saaldienern überwältigt und der Polizei übergeben.“
Jetzt sah Julius es wieder ganz deutlich vor sich: Die uniformierten Museumswächter, die den Mann durch die aufgebrachte Menschenmenge zerrten. Die schreienden, schimpfenden Besucher und sein Vater, der sagte, dass am nächsten Tag alles in der Zeitung stehen würde. Das war also Alois Lanz gewesen. Schaudernd lauschte er den Worten Lischkas.
„Lanz wurde abgeführt und hat üble Beschimpfungen gegen den Kaiser ausgestoßen. Er hat geschrien, dass das Museum nur ein Volksfest wär’, um die Leute von der maroden Monarchie abzulenken. Deswegen bekam er auch fünfzehn Jahre.“
„Er ist fünfzehn Jahre im Kotter gesessen?“, fragte Julius ungläubig.
„Wegen Majestätsbeleidigung und schwerer Sachbeschädigung des kaiserlichen Besitzes. Er hat die Strafe im Landesgericht Josefstadt abgesessen. Ich kenn’ das Gefängnis. Die gehen da nicht gerade sanft mit den Insassen um, vor allem nicht mit denen, die wegen Majestätsbeleidigung einsitzen. Es würd’ mich also nicht wundern, wenn der Lanz in diesen Jahren der Prügelknabe für ganz eifrige Verteidiger Seiner Majestät geworden wär’. Und laut den Entlassungspapieren aus dem Jahr 1897 ist er in der Gefangenschaft verrückt geworden.“
„Er wurde nach sechs Jahren entlassen?“
„Nein, nur verlegt. Er kam in die Nervenheilanstalt im Brünnlfeld. Dahin haben sie die Insassen vom Narrenturm verlegt, als der zu klein geworden ist. Das Irrenhaus liegt auf dem Gelände des Allgemeinen Krankenhauses …“
Lischka brach ab, und Julius fragte: „Die werden ihn doch nicht etwa als geheilt entlassen haben?“
„Doch, das haben sie. Aber das ist eigentlich unerheblich“, sagte Lischka. „Alois Lanz ist nämlich tot.“
„Tot?“, echote Julius.
„Und zwar durch eigene Hand. Er wurde, drei Wochen nachdem man ihn vorzeitig entlassen hat, in einer von den billigen Pensionen am Spittelberg gefunden. Erhängt.“
***
Julius blieb stehen und deutete nach vorn.
„Da ist es. Das Haus vom Hofrat. Colette wird den Seiteneingang benutzen. Wir sollten uns jetzt beeilen.“
Schlagartig fiel die Verwirrung über die neuen Erkenntnisse von Julius ab, als er mit Lischka über den knirschenden Schnee hinter Colette herhastete. Sie sahen, wie die Frau einen Schlüssel hervorholte und ihn ins Schloss steckte.
Lischka wollte loslaufen, doch Julius hielt ihn zurück und flüsterte: „Die Eingangstür schließt nur sehr langsam. Wir können hinter ihr ins Haus, ohne dass sie es merkt.“
Sie hörten das rostige Quietschen der Tür, die langsam hinter Colette zuglitt. Kurz bevor sie sich schloss, schob Lischka eine Hand in den Spalt und drückte sie wieder auf. Im Treppenhaus war es stockdunkel.
Sie folgten Colette, deren Schritte auf einmal schneller wurden, als hätte sie die beiden Männer gehört.
„Luise nimmt diesen Weg, um in ihre Gemächer zu gelangen“, klärte Julius seinen Freund auf. Die Erinnerung an seinen Besuch hängte sich wieder mit Bleigewichten an seine Knie, und Julius fühlte die fiebrige Erregung in sich hochschwappen wie überkochendes Wasser.
„Und was machen wir, wenn der Paradiesvogel ausgeflogen ist?“, wisperte er.
„Dann fragen wir die Dienerin, welche Gegenleistung sie dafür erbringen musste, dass sie in Kinskys Bett gekrochen war.“
Sie hörten einen Schlüssel im Schloss und beschleunigten den Schritt. Und dann, kurz bevor sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, hörten sie den Schrei. Einen durchdringenden, entsetzten Schrei.
Lischka schoss an Julius vorbei und griff nach der Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Sie hasteten in die Wohnung, und Julius zog den Inspektor instinktiv in den Salon.
Gleich darauf standen sie unter der gläsernen Kuppel, durch die das trübe Stadtlicht von Tausenden Straßenlaternen drang, das den Himmel über Wien gelblich färbte. Leise fiel der Schnee auf das durchsichtige Gewölbe.
Colette war auf die Knie gesunken und schluchzte, die Arme zu dem roten Diwan hingestreckt, an den Julius sich schmerzhaft erinnerte.
Lischka blieb wie angewurzelt stehen, und Julius spürte den Schreck im Nacken wie ein unsichtbares Beil.
Der Diwan, auf dem er selbst vor nicht allzu langer Zeit Luises tückischer Befragung ausgeliefert war, war nun Schauplatz der Genialität eines Künstlers. Julius hatte
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