Das Sternenprogramm
Pamphlets durch, das
vor einem Jahrhundert in New York erschienen war, Der
Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten
Internationalen – der Untertitel lautete: Das
Übergangsprogramm. Merkwürdig, dachte sie. Gab es
damals eigentlich schon Computer?
Sie überflog die ersten paar Seiten: ›Die
Produktivkräfte der Menschheit stagnieren. Neuen Erfindungen
und Verbesserungen gelingt es nicht mehr, den materiellen
Wohlstand zu mehren.‹ Also hatten sie doch schon Computer
gehabt. ›Ohne eine baldige sozialistische Revolution steht
die ganze Menschheitskultur vor einer Katastrophe.‹ Das
verstand sie nicht; wie die meisten Leute hielt sie es für
eine Binsenwahrheit, dass die Kommunisten, die ständig auf
Märkten und Demokratie und dergleichen vernünftigen
Dingen herumritten, grundsätzlich in Ordnung waren,
während alles, was mit Sozialismus zu tun hatte, eine
Katastrophe darstellte, welche die ganze Menschheitskultur
bedrohte. Darüber musste sie sich irgendwann Klarheit
verschaffen. Aber nicht jetzt. Sie legte das Pamphlet wieder
weg.
Unter den Postern befand sich auch das Schwarzweißfoto
einer äußerst attraktiven jungen Frau im Overall, die
gerade einen Verbrennungsmotor reparierte; sie blickte mit
großen Augen in die Kamera, ein überraschtes
Lächeln um die Lippen, und strich sich das Haar mit der
verölten Hand zurück.
Das war bestimmt Cat.
Moh trat ins Zimmer, bekleidet mit einem kragenlosen Hemd,
schwarzer Lederhose und Weste. Sie gab ihm keine Gelegenheit,
sich zu entfernen, sondern stellte ihm triviale Fragen über
das Gemeinschaftsleben, während sie in ihren teuren Taschen
wühlte, Bluse und Hosenrock auszog und Hose, Top und
Jäckchen anzog, alles aus schwarzer Seide.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie. »Falle ich
hier nicht zu sehr auf?«
Norlonto kam ihr nach wie vor wie ein riesiger bohemienhafter
Slum vor, wo teure Klamotten bloß auffallen und
Raubüberfälle herausfordern würden.
»Wenn Sie bloß mit Ihrem hübschen Korsett
bekleidet herumlaufen würden«, erwiderte Kohn,
»wären Sie noch mal so hübsch.«
»Vielen Dank.«
8
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Der virtuelle Treffpunkt
Jordan setzte den Rucksack ab und lehnte sich an das freie
Wandstück zwischen dem Telesexshop und der Spelunke mit
Namen ›The Hard Drug Cafe‹. Jedes vorbeikommende
Gesicht versetzte ihm einen leichten Schlag und verursachte ihm
eine vage, schuldbewusste Übelkeit, wie damals in seiner
Jugend, als er die erste Zigarette geraucht hatte. Seit er den
Hügel erklommen und den Broadway erreicht hatte, schwirrte
ihm von den bizarren und dekadenten Eindrücken der Kopf. Die
Wirklichkeit übertraf seine wildesten Träume, und dabei
war dies erst der Anfang. Überall blitzten Neon- und
Laserreklamen, in Schaufenstern wurden Handlungen vollführt,
die er sich nicht einmal in einem Schlafzimmer hätte
vorstellen können, Avatare und holografische Gespenster
durchdrangen die Körper der Passanten und trieben ihren
Schabernack. Auch die Passanten verblüfften ihn nach wie
vor, obwohl er aufgehört hatte, die Frauen anzugaffen, deren
Kleidung teilweise die Brüste, das Gesäß oder gar
die Beine entblößte. Ein Weltraumadaptierter schob
sich auf einer Kreuzung aus Fahrrad und Rollstuhl durchs
Gewühl, die er energisch mit den Armen und – nun ja,
mit den Armen vorwärts bewegte, die seine unteren
Gliedmaßen darstellten. Hin und wieder erwiderten
Metallaugen ohne Iris und Pupille seinen Blick und versetzten ihn
in Erstaunen. Er wusste, das bezeichnete man als Kulturschock.
Doch damit war ihm auch nicht geholfen.
Nachdem einige Passanten bereits ihre Schritte verlangsamt und
ihn erwartungsvoll gemustert hatten, wurde ihm bewusst, dass er
bloß die Hand auszustrecken bräuchte, und schon
bekäme er Almosen hineingedrückt. Erbost straffte er
sich, dann bückte er sich und hob den Rucksack wieder auf.
Er war ein Geschäftsmann, kein Bettler, und er hatte etwas
zu erledigen.
Das Hard Drug Cafe schien ihm der geeignete Ort
dafür.
Der Name hatte Tradition, ein Flashback in alte Zeiten. Die
einzigen Drogen indes, die hier konsumiert wurden, waren Kaffee
in Litermengen, Amphetamine in Tausend-Stück-Packungen und
Muntermacher, die in Speed-Einheiten berechnet wurden.
Beschlagene Wandspiegel weiteten das Innere des schmalen Raums;
virtuelle Personen ließen die spärliche Kundschaft zu
einer Menschenmenge anschwellen. Man musterte ihn hinter
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