Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
berichtet zum Beispiel von grundsätzlich verschiedenen Atemweisen bei schizoiden und bei neurotischen Patienten. Schizoide Menschen, so erklärt er, haben Probleme mit dem Einatmen, Neurotiker hingegen halten eher das Ausatmen zurück. Der Schizoide, der Angst davor hat, sich der Welt zu öffnen und sie aufzunehmen, ist unfähig, seine Lungen auszudehnen und genügend Luft aufzunehmen, seine Brust ist im Allgemeinen schmal, flach und verkrampft. Manchmal kommt es durch den Bewegungsmangel der Bauchmuskulatur zur Ausbildung der »Hühnerbrust«, und die Lungen dehnen sich extrem nach den Seiten aus, während das Zwerchfell unbewegt bleibt. Der Schizoide, so führt Lowen weiter aus, ist sich dieser Unfähigkeit nicht bewusst und nimmt die niedrige Stufe des Energiestoffwechsels als selbstverständlich hin.
Der Neurotiker hingegen leidet nach Lowen unter der Unfähigkeit, die eingeatmete Luft wieder völlig auszuatmen – er hat Angst, sich gehen zu lassen und seine Gefühle auszudrücken; seine Brust ist ungewöhnlich erweitert und zu sehr gedehnt; er neigt dazu, in der Einatmungslage zu verbleiben. [116]
Im Qi Gong wird vorausgesetzt, dass der Praktizierende keine schwerwiegenden psychischen Störungen hat. Solche sollten ärztlich/psychotherapeutisch behandelt werden – wobei die neuen Entwicklungen zu einer Integration von chinesischer Medizin und westlicher Medizin hilfreiche Möglichkeiten eröffnen. Bei der Diagnose »Psychose« oder »Schizophrenie« ist Qi Gong als Selbstheilmittel ungeeignet.
Im Qi Gong unterscheidet man grundsätzlich vier Atemweisen:
1. Lungenatmung: Dies ist die übliche Atmung, wobei sich die Brust beim Einatmen vorwölbt und beim Ausatmen zusammenzieht. Bei einem gestörten Energiehaushalt kann diese Atmung sehr flach oder auch unregelmäßig sein. Die Aufforderung, »tiefer zu atmen«, führt allerdings häufig nur zu einer heftigeren Bewegung im vorderen Brustraum, so dass die mittleren Lungenbereiche stärker aktiviert werden. Die oberen und unteren Lungenspitzen profitieren nicht davon, und das Zwerchfell bewegt sich nur geringfügig. Das Zwerchfell ist eine muskuläre Membran, die vorn am unteren Rippenrand befestigt ist, sich über Magen, Leber und Milz wölbt und bis zur Lendenwirbelsäule reicht. Über der linken Wölbung liegt das Herz, das durch die Herzbeutelspitze mit dem Zwerchfell verwachsen ist. Beim Einatmen spannt sich das Zwerchfell und senkt sich in die Bauchhöhle, beim Ausatmen entspannt es sich und hebt sich wieder, begleitet von der Dehnung und Zusammenziehung der Lungen. Die Bewegung des Zwerchfells nach unten ist nötig, um den Lungen genügend Volumen zur Atemaufnahme zu verschaffen. Bei ruhiger Atmung verlagert sich das Zwerchfell etwa um die Breite eines Rippenzwischenraums, bei tieferer Atmung können es zwei bis drei Rippenabstände sein.
Bei einer unbeeinträchtigten Lungenatmung bewegt sich nicht nur der vordere Brustkorb, sondern auch das Zwerchfell, die Flanken- und die Rückenmuskulatur. Durch die Bewegung des Zwerchfells nach unten und oben entsteht eine Druck- und Sogwirkung, die für eine stärkere Durchblutung der darunter- und darüberliegenden Bereiche sorgt. Magen, Milz, Leber und Herz werden durch den Wechsel von Druck und Entspannung angeregt. Das geschieht zum Beispiel ganz unwillkürlich beim Gähnen und beim Lachen, aber auch bei heftigem Weinen.
An diese übliche Art des Atmens hat wohl Goethe gedacht, als er die Zeilen schrieb:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderlich ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.
Die Voraussetzung für eine natürliche Atmung – auf der die Qi-Gong-Praxis aufbaut – ist immer eine ausreichende Entspannung; falsche Atemgewohnheiten beruhen auf einem in Mustern eingefrorenen Zustand. Deshalb kann eine gewisse grundlegende Atemschulung (»Atemtherapie«) im Fall eines stark beeinträchtigten Atmens sehr hilfreich sein. Viele westliche Menschen haben so außerordentlich verflachte oder einseitige Atemmuster aufgebaut, dass sie vor dem (oder begleitend zum) Qi-Gong-Training lernen sollten, ihre Atemmuskulaturen wieder zu gebrauchen und ihre Atmung zu normalisieren. Dadurch werden die nötige Gelöstheit, die geistige Disziplin und die Fähigkeit zur gesammelten Aufmerksamkeit unterstützt und extreme Situationen wie Schwindelgefühle, starke
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