Das Stockholm Oktavo
nicht früh genug elf Uhr schlagen, und so ging ich beizeiten in die Gråmunkegränd, um mir die Zeit beim Whist zu vertreiben. Ich klopfte bei Madame Sparv an, und nach einiger Zeit öffnete Katarina die Tür einen Spaltbreit.
»Sekretär! Madame Sparv sagte, Sie würden um elf kommen.«
Ich lugte über ihre Schulter. Der Flur war leer, die Spielsäle waren dunkel. »Wo sind die Spieler?«
»Sie müssen noch warten.« Katarina führte mich in den Warteraum der Suchenden, eine kleine Kammer neben der Treppe, die in den Oberstock hinaufführte. Eine einzelne Kerze in einem Wandleuchter aus Glas beleuchtete den Raum, drei Holzstühle standen an der Wand. Ich wartete fast eine Stunde, bis ich endlich Schritte auf der Treppe hörte. Ich trat in den Flur, um zu sehen, wer die Stille an den Spieltischen zu verantworten hatte, und hörte Madame Sparvs dringliche Stimme: »Nein, Gustav, diese Vision war eine Warnung an Euch!«
Dann stimmte es also! Ich wich wieder in den Warteraum zurück und beobachtete meinen König hinter der Tür. Das erste Mal hatte ich König Gustav bei seiner Krönung gesehen, damals war ich acht Jahre alt und er ein sechsundzwanzigjähriger Held voller Jugend. Als Gustav an diesem schönen Maimorgen vorbeigeritten war, glitzerte es golden vor dem hellblauen Himmel, und ich fing eine der Münzen auf, die er geworfen hatte, ganz sicher nur für mich. In den folgenden zwei Jahrzehnten hatte König Gustav einen schillernden Hof, das Königliche Theater, die Oper und die Schwedische Akademie begründet. Voltaire hatte ihn den »aufgeklärten Monarchen« genannt.
Jetzt zog der König weiße Lederhandschuhe mit Paspeln aus Silberfäden an, die im Licht der einsam brennenden Wandleuchte glänzten. »Ich finde Ihre Vision gar nicht so düster, Sofia.«
Madame Sparv schnaufte ärgerlich, König Gustav drehte sich um, und ich konnte endlich sein Gesicht sehen. Er hatte einen dicken Bauch bekommen, und er ging gebeugt, als würde das Gewicht der Jahre ihn langsam niederdrücken. Er sah aus wie jeder andere Mann seines Alters, und er suchte Antworten wie jeder andere Suchende auch.
»Das war unhöflich, Sofia, und Sie wissen, dass ich es nicht despektierlich meine. Verraten Sie mir noch einmal Ihre Vision, und ich sage Ihnen, was
ich
daraus ersehe.«
Madame Sparv schloss die Augen. »Die Sonne geht unter, der Himmel färbt sich von Blau zu einem feurigen Orangerot im Westen, Wolkenbänke reichen weit in den Himmel hinauf. Da steht ein stattliches, schönes Haus wie ein Palast, davor wartet eine große schwarze Reisekutsche, die Pferde blähen die Nüstern und bäumen sich auf, sie wollen unbedingt fort. Wind kommt auf, ein tosender Sturm. Die Kutsche, die Pferde und der schöne Palast werden hinweggefegt wie Sand und schweben über Stockholm wie Diamanten, wie Sterne, dann fallen sie in die tintenblauen Tiefen des Riddarfjärden und sind weg. Alles verloren, Gustav. Alles.« Sie packte ihn am Arm: »Diesen Wind finde ich bedrohlich. Er kann nicht aufgehalten werden.«
»Wir können den Wind nicht aufhalten, teure Freundin, und ich will mit ihm segeln.« König Gustav nahm Madame Sparvs Hand und hielt sie. »Ich bin begeistert von dieser Vision, Sofia, Sie haben die Bedeutung missverstanden, nicht weil Ihnen die Gabe dazu fehlt, sondern die Information. Versuchen Sie, es von meiner Warte aus zu sehen: Ein feuriger Sonnenuntergang, ein majestätisches, aber leeres Haus, das von einem Sturm hinfortgeweht wird – das deutet auf die Revolution in Frankreich hin, auf den König und die Königin, die zu Unrecht und gegen ihren Willen festgehalten werden.« Gustav dämpfte die Stimme, aber seine Erregung klang durch: »Diese Vision bestätigt den Erfolg eines Rettungsplans, der gerade in die Tat umgesetzt wird. Der junge Graf von Fersen ist in Paris und sorgt für die Durchführung, und eine schwarze Reisekutsche spielt dabei eine zentrale Rolle – genauso wie Sie es geschildert haben. Die Königsfamilie wird getarnt zu einer Burg nahe der luxemburgischen Grenze fahren. Gegen Mittsommer geht die Fahrt los, das Haus wird gerettet, die revolutionären Verräter werden wie Staub in der Seine zerstieben.«
»Ihr kennt meine Gefühle für Frankreich. Ich wäre überglücklich über Euren Erfolg«, sagte Madame Sparv. »Aber diese Vision betrifft Euch! Und der Wind … der Wind ist ein schreckliches Zeichen. Ihr müsst Euch um Euer eigenes Haus kümmern.«
»Ja, mein Haus wirkt leer.« Der König ließ ihre Hand
Weitere Kostenlose Bücher