Das Stockholm Oktavo
ätherischen Blässe setzte sich Johanna durch ihre Arbeit noch mehr von den anderen Mädchen im Dorf ab. Ihre beiden älteren Brüder waren an der Cholera gestorben, und Herr Grå brauchte Hilfe in der Apotheke. Mit vierzehn Jahren konnte Johanna lesen und schreiben, sie beherrschte ein bisschen Latein und Französisch und verstand sich auf Botanik und Arzneien, doch ihre Hauptaufgabe war die Suche, der Anbau und die Herstellung von Ingredienzien, aus denen viele einfachere Medikamente bestanden: Löwenzahn, Wacholder, Kamille, Hagebutte, Stechapfel, Holunderblüte, Bärentraube, Arnika. In den gemäßigten Jahreszeiten holte sie ein, zwei Mal im Monat Blutegel, dann stand sie barfuß im Weiher, bis ihre Beine schwarz davon waren. Die gesammelten Pflanzen und Tierchen brachten der Familie Geld, um Kräuter und Arzneien zu kaufen, die sie nicht selbst anbauen, sammeln oder herstellen konnten.
In diesen Pflanzen und Blumen entdeckte Johanna einen ganzen Regenbogen. Sie fing an, die Pigmente zu trocknen oder zu mazerieren, um die Farben zu bewahren. Sie studierte die Färbungen der Wurzeln, Samen, Blüten und Rinden, die sie trocknete und zu Pulver zermahlte. Wenn sie die Pigmente in Leinöl oder Alkohol gab, erzielte sie die buntesten Ergebnisse. Ihrem Vater sagte sie, sie würde auf diese Weise Botanik und Pharmazeutik studieren, ihrer Mutter sagte sie, es sei ein persönliches Gebet. Manche ihrer Mixturen hatten heilende Eigenschaften, und sie schlug ihren Eltern vor, durch deren Verkauf das Familieneinkommen aufzubessern. Die schmackhaften Tinkturen waren wohltuend und wurden schnell beliebt, vor allem eine, die Herr Grå das »Anti-Katzenjammer-Tonikum« nannte. Es bestand aus Ingwer, Kardamom und Schnaps. In der klaren Flüssigkeit schwammen winzige weiße Teilblüten der Schafgarbe, und es kurierte so manch einen Kater im umliegenden Land, während es ein beachtliches Sümmchen in die Kasse spülte.
Die Grås erlebten ein Jahr der Blüte und der relativen Ruhe, bis Johanna mit sechzehn zur Frau wurde. Frau Grå betrachtete dies als den Eintritt ihrer Tochter in den gefährlichen Schärengarten der Weiblichkeit und hielt ihr täglich Standpauken gegen die Todsünde der Lust. Sie stachelte ihren Mann dazu an, grauenerregende Geschichten über verstümmelte Dirnen aus dem Alten Testament vorzulesen, sie nahm Johanna das farngrüne Haarband weg, das diese in ihrem Leibchen versteckte, und verbrannte es als den Keim der Liederlichkeit. Doch diesbezüglich war ihre Angst unbegründet – weder hatte Johanna fleischliche Gelüste, noch wurde ihr vom anderen Geschlecht jemals die geringste Aufmerksamkeit zuteil. Es war, als hätte sich die neutrale Chemie, die ihre Erscheinung bestimmte, mit dem Odem des Keuschheitsengels vermischt. Johanna wäre es nicht im Traum eingefallen, ihre eigene Hand über die weiche Haut ihrer Brüste und ihres Unterleibs wandern zu lassen, um zu erkunden, was sie zwischen den Beinen hatte. Ihre körperliche Reife weckte in ihr einzig und allein des Öfteren das Bedürfnis nach einem Bad. Als Frau Grå die natürliche Tugendhaftigkeit ihrer Tochter erkannte, betrachtete sie diese als einen Segen des Herrn und fing an, ein passendes Gegenstück für sie zu suchen. Herr Grå sah sich nach einem neuen Lehrling um. Aber die Dinge liefen nicht nach dem Plan Gottes oder dem Plan der Grås. Und auch nicht nach dem der jungen Johanna.
Hinken nahm Johannas Hand und steckte ihr eine Münze zu. »Wir haben es nicht böse gemeint, Fräulein Grå.«
»Sie haben ein gutes Herz, Kapitän«, sagte ich und wünschte spontan, ich wäre der Großzügige gewesen.
»Es wird durch Übung weicher, Sekretär«, sagte Johanna.
Ich fischte eine Münze aus meiner Tasche und reichte sie ihr. »Ich nehme an, ich kann klein anfangen.«
»Ein kleiner Schlüssel kann ein großes Tor öffnen«, sagte sie und ging weg.
Hinken und ich stießen mit unseren Bechern an, dann zog ein lauter Tisch mit Spielern unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren in eine Partie Poch vertieft, ein altes elsässisches Kartenspiel, das an einem Pochbrett gespielt wurde, bestehend aus acht Feldern für die Einsätze und einem Mittelfeld für den Talon. Ich verfolgte eine Weile das Melden und Pochen, dann studierte ich das Brett mit den acht Feldern, die mich an meine Verabredung mit Madame Sparv erinnerten. Die Felder waren mit Begriffen wie
Hochzeit, König
und
Bube
benannt. Es war schon nach elf Uhr, und bei dem Gedanken, in der
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